Man musste in den 1950ern und 60ern nur einen klaren Blick mit ein wenig Gerechtigkeitsempfinden kombinieren, um gegen das bürgerliche Bildungssystem rebellisch zu werden. Es war das Herrschaftssystem einer Klasse, die ihren Kindern das Abitur in die Wiege legte. Große Teile der Bevölkerung waren vom weltweit gerühmten deutschen Gymnasial- und Universitätssystem ausgeschlossen. Treffende Analysen dieses Missstands konnte man schon früh bei Sozialisten von unantastbarer Redlichkeit lesen, beim alten Wilhelm Liebknecht zum Beispiel: Niemals werde die Bourgeoisie dulden, so der Bildungsfachmann der SPD, dass das Proletariat „die echte Bildung“ bekomme: „die Bildung, welche frei macht“.
Nun – jetzt endlich kann man aufatmen. Man hat wi
Man hat wirklich Remedur geschaffen, und zwar so: Zuerst die Zerstörung jenes gerühmten Bildungssystems, und jetzt darf jeder rein. Bekommen da endlich auch die Arbeiterkinder die ersehnte „Bildung, die wirklich frei macht“? Nein. Denn als unüberbietbar demokratische Lösung wurde installiert: Keine Bildung für alle! Wie kann das sein, wo doch im letzten Wahlkampf in einem einzigen Punkt alle Parteien lauthals in dieselbe Richtung riefen: Verbesserung der Bildung! Mit solchen Slogans, die des allgemeinen Beifalls sicher sein können, wird zweierlei systematisch verdeckt.Bildungsideal der DiktaturenErstens ist Bildung unmöglich ohne ein „Menschenbild“. Wir haben keins mehr oder besser: Das, was wir haben, soll in seinem Wesen nicht erkannt werden. Fitnesstraining, um in unserem neoliberal-kapitalistischen System erfolgreich mitrackern zu können. Historisch gebildete Menschen – die gibt es kaum noch, weil an den Schulen der den abendländischen Kulturzusammenhang anvisierende, kontinuierliche Geschichtsunterricht wegreformiert ist. Gibt es nicht mehr? Soll es nicht mehr geben! Denn die so Informierten würden erkennen, dass nach genau dieser Zielstellung auch Nazis und DDR-Obere verfahren sind: den Horizont junger Menschen begrenzen und gleichzeitig ihnen ein Training verpassen, dass sie willig im jeweiligen System mitmachen können und wollen. So wird der Mensch zum Knecht der herrschenden Verhältnisse. Es wird – zweitens – verdeckt, dass es eines ganz anders gearteten, inzwischen ausrangierten Bildungsbegriffs bedarf, wenn der Mensch nicht Knecht, sondern Herr in den zufällig herrschenden Verhältnissen sein will. Er braucht, durch eine tiefe Kenntnis der abendländischen Geschichte und ihrer zentralen Wertpunkte kundig gemacht, die Fähigkeit, sich außerhalb der gerade dominierenden Verhältnisse aufzubauen. Nur von dort aus kann er sie kritisch beurteilen. Die Maßstäbe dafür liefert ihm die abendländische Geschichte – ihre Kunst, ihre Philosophie, kurz: ihr ganzer Kulturschatz. Die Urteilssicherheit wächst ihm zu durch den Umgang mit der Vielfalt, die ihm in der zweieinhalbtausendjährigen Geschichte entgegentritt.Wie konnte die Universität, mir nichts, dir nichts, innerhalb weniger Jahrzehnte von ihrem alten heilsamen Weg abgebracht werden? Sehr einfach: Sie blieb bei ihrer Tradition. Weder 1914 noch 1933 hat sie sich dem Unglück entgegengeworfen. Max Frisch hat diese Schwachstelle der ganzen deutschen Kultur, ihre Neigung zur Selbstaufgabe „ästhetische Kultur der Unverbindlichkeit“ genannt. Die Kultur habe in Deutschland bloß aus Emphase bestanden, nicht aus inhaltlich gehärteter Substanz. Also ist sie leicht „rumzukriegen“. Was waren die zentralen Maßnahmen ihrer Entkernung? Zunächst der Bologna-Blödsinn: Sechs-Semester-Studiengänge hochschulgerecht zu nennen, entkernt ein universitäres Studium. Das besteht darin, zumindest an einer Stelle unserer Wirklichkeit bis auf den untersten Grund geschaut zu haben, dies in der gesicherten Hoffnung, dass man die dort gesehene Problemtiefe auf alle anderen Lebenssituationen überträgt, ohne sie selbst gesehen zu haben. Das ergibt eine vorsichtige, solide Weise des Urteils.Dann das Kappen des tiefen Blicks durch die systematische Bekämpfung der Sprache, die man getrost die Sprache des Abendlands nennen kann: Latein. Gezielte Geschichtsvernebelung sorgte dafür, dass die bewusstseinsschärfende Historie dieses Reduktionskampfes verdeckt wurde: Kaiser Wilhelm II. plädierte als Erster für die Zurückdrängung, um endlich den deutschen Menschen erblühen zu lassen. Hitler hätte die Erledigung dieser Sprache beinahe geschafft. Zu flächendeckendem Erfolg kamen erst Menschen mit Ewigkeitsnamen wie Edelgard Bulmahn und Sylvia Löhrmann.Professoren auf der FluchtUnd dann die wahrlich freiheitsfördernde Maßnahme mancher Länder, die Anwesenheitspflicht aufzuheben – für die Studenten, nicht für die Professoren, versteht sich. Solche Maßnahmen können nur von Schreibtischreformern kommen, die nicht unterrichten müssen. Wie soll ein Seminarleiter oder referierender Student sinnvoll agieren, wenn er nicht weiß, auf welchem Wissensstand seine Hörer sind? Dann die „Points“, oft auch verteilt, wenn man gar nicht anwesend war. Den Studenten bereitet das keine Kopfschmerzen, weil sie auch Professoren beurteilen dürfen, wenn sie nur in der Stunde zufällig da waren, in der die Beurteilungsbögen verteilt werden. Es gibt Professoren, die, um dem Point-System wenigstens noch einen kleinen Sinn abzuringen, von den Teilnehmern verlangen: schriftlicher Problemaufriss zweier Vorlesungen. Die Folge: Studenten – und Studentinnen – fragen: „Darf man auch die ersten beiden Vorlesungen nehmen?“ Kann es noch wundern, dass sich die Professoren in die Sonderforschungsbereiche und Exzellenzcluster zu retten versuchen und Studenten eher unattraktiv finden? Sie wissen ja, dass in den Ministerien und Parlamenten die hauptberuflichen Reformer in Blitzgeschwindigkeit an neuen hochbedeutsamen Umbrüchen basteln. Sie sind nämlich die dominanten Phänotypen unserer Zeit – mit Erlösungsgebärde Suppe servieren, die man selbst niemals essen würde, dann: eine neue, noch bessere kochen.Placeholder authorbio-1Placeholder link-1
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