Die normative Kraft des Faktischen

Beton-SPD reloaded Berliner SPD-Politiker wehren sich mit merkwürdigen Argumenten gegen eine bessere Verkehrspolitik für Radfahrer. Das muss sich dringend ändern

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Die normative Kraft des Faktischen

Foto: ODD ANDERSEN/AFP/Getty Images

Verkehrspolitik ist in vielerlei Hinsicht ein schwieriges Unterfangen. Sie wird als identitätsstiftend für eine ganze Nation überhöht (wie jüngst Verkehrsminister Dobrindt in Bezug auf das Auto in der FAZ verlautbarte), sie wird zum Kampfforum für Milieu- und Abgrenzungsbedürfnisse („Kampfradler“ und „Öko-Muttis“) und ist nicht zuletzt auch im Klemmgriff handfester Interessen, wie Autobauer und Zulieferer, der Baubranche und der angehängten Serviceindustrien wie Versicherungen etc. Insofern muss die Emotionalität und Verschwurbeltheit der Argumente eigentlich nicht verwundern, wenn sich mal wieder jemand öffentlich zum Thema Fahrrad äußert.

In Berlin allerdings scheint sich die SPD ein neues Narrativ zum Thema ausgedacht zu haben, das so holprig und steif den Spagat zwischen Pluralismus und Betonpolitik versucht, dass einem das Lachen im Halse stecken bleiben kann. Auf die Frage, warum auf der Schönhauser Allee von den vielen Autospuren nicht eine für den Radverkehr freigegeben wird, antwortet der Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel jüngst der taz: „… eine Freigabe einer ganzen Spur für Radler schafft nur neue Probleme, und löst keine. Wir wollen nicht ein Verkehrsmittel bevorteilen zuungunsten eines oder mehrerer anderer.

Eine ähnliche Stoßrichtung hat das Mantra, verschiedentlich vorgetragen von SPD Vertretern, man wolle nicht die Fehler der autogerechten Stadt wiederholen und jetzt eine fahrradgerechte Stadt schaffen. Hier offenbart sich eine Sichtweise, die die jetzigen Verhältnisse auf der Straße als den Normalfall der Geschichte betrachtet.

Dass Berlin jedoch 300 Mio. Euro jährlich für Straßen ausgibt, aber nur 4 Mio. für Radwege – einfach weggedacht! Oder dass gerade 2 km Autobahn für eine halbe Milliarde Euro gebaut wird – ignoriert! Dass der Flächengerechtigkeitsreport der Initiative clevere Städte für Berlin ausgerechnet hat, dass nur 3% der Fläche für Fahrradverkehr vorbehalten ist, obwohl dieser 15% des Verkehrs ausmacht – wohl auch nicht relevant? Dass eine neu gebaute zentrale Brücke am Ostkreuz ohne Fahrradstreifen auskommen muss – vielleicht schon schwieriger! Dass in Neukölln keine der großen Hauptverkehrsstraßen in absehbarer Zeit überhaupt mit einem Fahrradstreifen oder -weg ausgestattet wird – verständlich, es müsste ja dem Auto ein wenig von seinem Platz genommen werden.

Dass also die jetzige Situation das Ergebnis einer fast kompromisslosen Bevorzugung des motorisierten Individualverkehrs in den letzten 50 Jahren darstellt, wird so geflissentlich einfach wegdefiniert. Eine Autospur den AutofahrerInnen wegzunehmen, würde in dieser Logik natürlich eine Benachteiligung eines Verkehrsmittel im Vergleich zur jetzigen Situation bedeuten. Ebenso die Idee Autoparkplätze in Fahrradabstellflächen umzuwidmen – das wäre dann die einseitige Bevorzugung des Fahrrads. Insofern ist nur erlaubt, was keinem anderen Verkehrsmittel etwas wegnimmt. Bei dem begrenztem Raum in der Stadt lässt sich so auf einmal problemlos verstehen, warum in Berlin so wenig passiert im Bereich Fahrrad- und Fußgängerwege.

Manchmal hilft ja ein Gedankenexperiment: Wir bauen gemeinsam eine Stadt, es ist eng, viele Menschen wohnen auf dichten Räumen zusammen, nutzen gemeinsam Parks, Spielplätze, Schwimmbäder und Büros. Was für viele Eigenheimbauer im letzten Jahrhundert ein Traum war, macht vielen modernen Städtern eher Sorge: etwas zu besitzen. Aber es trifft sich gut – auch ökologisch ist eine gemeinsame Nutzung von Ressourcen und Räumen notwendig und politisch gewollt.

Nun ein kurzes Brainstorming: welches Verkehrsmittel passt zu diesen Attributen? Es liegt auf der Hand – auf jeden Fall nicht das eigene Auto! Warum also sollten all die Städter, die sich für eine ökologischere und effizientere Lebensweise entscheiden von den Lärm- und Feinstaubemissionen der Vorortpendler belastet werden und dabei selber mit ihrem präferierten Verkehrsmittel so schlecht durch die Stadt kommen? Warum ist die Straße nicht für AnwohnerInnen da, sondern für Durchgangsverkehre von Leuten, die selber im Grünen leben und nicht belastet werden?

Wie viele Autos man noch in der Stadt haben möchte, ist Ansichtssache. Ziemlich sicher jedoch ist, dass eine Stadt, die von seinen BewohnerInnen neu entworfen werden würde, sehr viel weniger Raum für motorisierten Individualverkehr bereithalten würde. Was also ist hier der „Normalfall“? Müssen wir die normative Kraft der faktischen Autodominanz in der Stadtinfrastruktur akzeptieren? Nein, Herr Geisel, und vergessen Sie nicht: Mindestens ein Problem wäre gelöst, würde man auf der Schönhauser Allee eine Spur für den Radverkehr freigeben. FahrradfahrerInnen hätten ein schnelles und sicheres Durchkommen. Wenn das nicht auch was ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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Diggity Diskurs

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