Jahrestag des Anschlags von Hanau: Unermüdlicher Kampf der Hinterbliebenen
Rechtsextremismus In Hanau hat ein rechtsextremer Attentäter am 19. Februar 2020 neun Menschen aus rassistischen Motiven erschossen. Am dritten Jahrestag des Anschlags sind die Angehörigen weiterhin voller Wut
„Ich habe eigentlich keine Kraft zu reden“, beginnt Serpil Unvar ihre Rede auf der Gedenkveranstaltung am Hanauer Marktplatz, „doch wir haben gelernt, an solchen Tagen reden zu müssen, denn viele Politiker:innen erwarten von der Gesellschaft, dass wir diese Ermordungen langsam vergessen. Aber wir sind widerständig. Wir sind beständig, wir erinnern, damit niemand vergessen kann.“
Rund 800 Menschen sind am Sonntag am Hanauer Marktplatz zusammengekommen, um den Opfern des rassistischen Anschlags zu gedenken. Neben den Angehörigen der Ermordeten ist auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) und Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) vor Ort. „Das Recht auf ein angst- und furchtfreies Leben geh
Boris Rhein (CDU) und Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) vor Ort. „Das Recht auf ein angst- und furchtfreies Leben gehört für mich zu den Voraussetzungen und Versprechen unserer Verfassung“, so Kaminsky. „Besonders dankbar bin ich den Familien und den Hinterbliebenen, die nicht mit Hass geantwortet haben.“Doch die Familien wiederholen ihre Kritik am Oberbürgermeister. „Wieso haben Sie immer noch kein Denkmal errichtet, Herr Kaminsky?“, fragt Emiş Gürbüz, Mutter des verstorbenen Sedat Gürbüz. Sie weist auf die Denkmale in anderen Städten wie in Kassel und Bielefeld hin und teilt ihre tiefe Enttäuschung mit. „Sie bleiben uns als tatenloser Bürgermeister in Erinnerung“, sagt Emiş Gürbüz und schaut dabei Claus Kaminsky, der in der vordersten Reihe sitzt, in die Augen. Gürbüz fordert: „Machen Sie das, was in ihrer Macht steht. Sofort!“Viele der Angehörigen kämpfen mit neuen Sorgen. Seit Monaten wird die Familie Unvar vom Vater des Täters belästigt. Er betreibe Psychoterror, sagt Serpil Unvar in ihrer Rede. „Er zerkratzt die Autos migrantischer Familien. Er belagert uns und starrt uns an. Er geht zu kleinen Kindern. Immer mit einem großen Hund dabei. Was muss noch passieren? Er fordert Waffen und die Webseite seines Sohnes zurück. Und wir alle wissen, wohin dieser rassistischer Hass führt.“Die Polizei schütze die Familien nicht„Klare Antworten werden vermisst“, sagt Ajla Kurtović, die Schwester des ermordeten Hamza Kurtović, in ihrer Rede. „Warum wurden wir behandelt wie die Gefährder, statt wie die Gefährdeten?“ Armin Kurtović, Hamzas Vater, erzählte 2021 in einem Interview, dass die Polizei den betroffenen Familien unmittelbar nach dem Anschlag eine Gefährderansprache hielt. Kurtović weist darauf hin, dass niemand vor dem Vater des Täters gewarnt wurde. Stattdessen forderten die Polizisten die Angehörigen auf, Abstand zu halten und keine „Eigenjustiz“ zu begehen. „Wer ist hier Täter, wer Opfer?“, fragt Ajla Kurtović.„Die Polizei schützt uns bis heute nicht vor dem Vater des Attentäters“, so Colorado Kierpacz, Sohn der ermordeten Mercedes Kierpacz. Er war 17, als er seine Mutter verlor. Nun ist er ein junger Mann und fordert Gerechtigkeit: „So viele Vorfälle hätten verhindert werden können. Wir hoffen auf Veränderung.“ Der Mord an seiner Mutter hat ihn politisiert. Die Kraft erhalte er von Menschen, die bei ihm stehen und mit ihm kämpfen, sagt er. „Es hört einfach nicht auf, der Schmerz ist eine zusätzliche Belastung.“Über die Jahre sind die Blicke der Angehörigen strenger, ihre Stimmen lauter und deutlicher geworden. Unermüdlich tragen sie jeden Tag ihre Forderungen in die Öffentlichkeit, in die Zivilgesellschaft, in die Politik und auf die Straßen, um auf allen Ebenen Druck auf die Sicherheitsbehörden aufzubauen, damit behördliche Versäumnisse und Fehler anerkannt und Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden. „Erinnern heißt kämpfen“, sagt Çetin Gültekin, der Bruder des getöteten Gökhan Gültekin, in seiner Rede laut. „Bis heute wurde noch keine politische Verantwortung getragen und es kam keine Entschuldigung.“ In den Redebeiträgen der Angehörigen wird die Politik, die hier zahlreich vertreten ist, aufgefordert, ihrer Verantwortung nachzukommen, um eine lückenlose Aufklärung zu ermöglichen. Und nicht – wie im Fall des NSU – Akten mehrere Jahrzehnte lang unter Verschluss zu halten.Nach der offiziellen Gedenkveranstaltung gehen Dutzende junger Menschen zum Hauptfriedhof, um den Verstorbenen zu gedenken. Später am Nachmittag wird an den Räumlichkeiten der Bildungsinitiative Ferhat Unvar ein wandgroßes Graffiti, gemalt vom Kollektiv Ohne Namen, eingeweiht. Das Kollektiv gestaltet mit Jugendlichen, die von Rassismus betroffen sind, immer wieder neue Bilder, unter anderem in Frankfurt und Hanau. Das Mural an der Wand der Bildungsinitiative Ferhat Unvar, zeigt seine Worte: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst“ und sein Gesicht.Gedenken an den beiden TatortenWährend bundesweit in mehreren Städten Demonstrationen mit Tausenden von Teilnehmer:innen stattfinden, die an den rassistischen Anschlag in Hanau erinnern, nehmen am späten Nachmittag laut den Veranstaltern über 3000 Menschen an der Demonstration, die am Marktplatz beginnt, teil. Im Gespräch mit dem Freitag erzählt der Rapper Arda aka Apsilon am Rande der Demonstration, dass er seit dem Anschlag in allen seinen Konzerten an Hanau erinnert und auf die Hinterbliebenen aufmerksam macht, um mitzukämpfen. Der dritte Jahrestag des rechten und rassistischen Anschlags endet um 21.30 Uhr mit einem gemeinsamen Gedenken an den beiden Tatorten, am Heumarkt und in Kesselstadt. Genau drei Jahre nach dem rassistischen Anschlag von Hanau kämpfen die Hinterbliebenen weiter: für Gerechtigkeit, für ein angemessenes Erinnern, für eine lückenlose Aufklärung und politische Konsequenzen.Im Kurdischen bedeutet der Begriff für Beileidsbezeugung „sersaxî“, etwa „einen gesunden Kopf behalten“. Es ist das, was man den Familien weiterhin wünschen kann, um für ihre neun Angehörigen, die durch einen Rassisten ermordet wurden, weiterhin kämpfen zu können. Für Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Gökhan Gültekin, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, und Fatih Saraçoğlu.