Tanja Vassilewa – 48 Jahre alt und ohne Familie, denn ihre Kinder sind erwachsen – lebt in der Kleinstadt Trjavna mitten im gebirgigen Zentralbulgarien, wo die Menschen auf das kleine Gewerbe angewiesen sind. Es gibt ein paar Tischler, zwei, drei Sägewerke, dazu Webstühle und Wirtshäuser. Was sich verdienen lässt, wird weniger und ist zum Leben zu wenig. „Ich stoße auf eine Mauer, und es gibt keinen Ausweg“, meint Tanja. Ihre schwarzen Locken fallen ins weiße Gesicht. „Ich tue alles, was ich kann. Doch die Tage vergehen, und ich komme keinen Schritt voran – der Schritt, den es jeden Tag braucht, der fehlt. Deshalb will ich nach Deutschland auswandern.“
Ab 1. Januar dürfen Bulgaren als EU-Bürger in Deutschland
utschland unbeschränkt arbeiten. Tanja will versuchen, als Kindergärtnerin unterzukommen, in ihrem alten Beruf. Wie die meisten ihrer Landsleute, die sich für eine Auswanderung entscheiden, ist sie qualifiziert. 40 Prozent der erwerbsfähigen Bulgaren haben einen Hochschulabschluss, in Deutschland sind es nur 28 Prozent. Ihre Zeugnisse hat Tanja schon vor Monaten übersetzen lassen und nach Stuttgart geschickt. Dort leben Verwandte, die sie anfangs aufnehmen könnten. Von Regierungspräsidium ging bereits ein Brief nach Trjavna: Die Papiere würden anerkannt. Tanjas Qualifikation entspreche „teilweise den Anforderungen des Landes Baden-Württemberg“. Mit diesem Bescheid könne sie sich für einen „pädagogischen Anpassungslehrgang“ in Stuttgart bewerben.Nicht mehr gebrauchtWenn das klappt, will Tanja zuerst ihre beiden Kinder benachrichtigen, dann ihre Mutter anrufen, die in einem Dorf bei Trjavna lebt. Das wird kein einfaches Telefonat. Die 76-jährige Dobrinka Petkowa leidet unter akuter Arthritis. Oft braucht sie Hilfe und fährt regelmäßig mit dem Bus zur Tochter oder die kommt zu ihr. Tanja hofft, mit dem Geld, das sie in Deutschland verdient, eine Pflegerin bezahlen zu können, aber das tröstet die Mutter nicht. „Ich komme allein nicht mehr zurecht. Meine Tochter wäscht mich, schneidet und färbt mir die Haare. Oder sie bringt mir Gläser mit Essen. Ich kann das Messer nicht mehr halten, ich kann nicht kochen. Wenn ich liegen muss wie gestern, kommt Tanja sofort. Ich brauche sie.“ Die Tochter wolle eben etwas machen aus ihrem Leben, aber sich danach wieder um sie kümmern. Sie habe geweint und geweint, weil sie nichts Gutes erwarte. „Aber wie kann ich meiner Tochter im Wege stehen?“Tanja ist seit zwei Jahren arbeitslos. Den Beruf als Kindergärtnerin gab sie auf, als ein besser bezahlter Job beim Versandhandel lockte. Sie folgte ihrem Mann, der bereits dort war. Doch im Januar 2012 wurde ihr gekündigt. Von heute auf morgen musste sie zu Hause bleiben, ohne Abfindung, ohne Arbeitslosengeld. Bulgariens Sozialsystem gewährt kaum Sicherheiten, und Armutsbekämpfung, wie sie in den EU-Verträgen verankert und für das Land seit dem EU-Beitritt von 2007 verpflichtend ist, überfordert den Staat.Als Kindergärtnerin ist Tanja in einer Kleinstadt mit schrumpfender Bevölkerung längst nicht mehr gefragt. Nur manchmal kann sie aushelfen beim Babysitten. Der 18-jährige Sohn soll als Fußballer ins Jugend-Nationalteam berufen werden, doch ohne finanziellen Beistand der Familie bleibt das ein unerfüllbarer Traum. Gelegentlich schickt die in Sofia lebende Tochter etwas Geld, wenn das ihr Frisiersalon hergibt. „Es ist mir nicht recht, dass sie auch noch uns versorgen muss.“ Tanja atmet tief durch. „Wären es zwei oder drei Monate, in denen wir uns durchbeißen müssen – aber so. Wir sind nicht faul, doch in Bulgarien wird das mit uns nichts mehr.“Wie Tanja sind viele Bulgaren davon überzeugt, gescheitert zu sein, wie ihre Gesellschaft gescheitert ist. Es wird abgewogen – die Familie, die Freunde, die Nachbarn, die Heimat? Alles ist ohne Perspektive. Es bleibt nur das fremde Land, an dem man wie Tanja „die beispielhafte deutsche Ordnung und Organisation“ bewundert.Auf gepackten KoffernAuch Gergana Hristowa (44), Lehrerin in Sofia, hat das Gefühl, in einem Staat zu leben, in dem sie nichts gilt und nur Geld zählt. „Nicht allein den Armen geht es schlecht, auch dem Mittelstand. Viele können Kredite nicht zurückzahlen. Menschen nehmen sich das Leben, weil es keine Menschlichkeit mehr gibt. Ich hatte jahrelang Dutzende von Jobs als Hausangestellte bei wohlhabenden Familien in den USA und bin wegen meiner Familie vor fünf Jahren zurückgekehrt. Die Heiterkeit der Amerikaner hat mich fasziniert – ich wollte sie nach Bulgarien mitnehmen, aber musste bald merken, wie ich immer bedrückter wurde – die Traurigkeit der Anderen steckt mich an.“Der Gedanke, noch einmal auszuwandern, diesmal nach Deutschland, beschäftigt sie. Augenblicklich arbeitet Gergana als Englischlehrerin in einem Privatkindergarten; ihre zehnjährige Tochter erzieht sie allein oder zusammen mit den Eltern. Wie es gerade passt. Überstunden fallen ständig an, so verdient Gergana umgerechnet 600 Euro im Monat, das ist gutes Geld für bulgarische Verhältnisse. Doch lässt sich damit weder eine Mietwohnung, geschweige denn ein Auto bezahlen, um früher nach Hause zu kommen.Wie viele Bulgaren der gleichen Generation wohnt sie weiter bei den Eltern und teilt sich mit der Tochter ihr einstiges Kinderzimmer. Wird Besuch eingeladen, muss sie das mit der Mutter aushandeln. Gergana wechselt ständig von der Rolle einer Untermieterin in die der besorgten Tochter, die in zwei älteren Menschen ihre Nächsten hat. „Mein Kind verlangt mehr Aufmerksamkeit, doch muss es warten wie in einer Schlange, an deren Ende man sich anzustellen hat.“ Das Kind gebe ihrem Leben Sinn. „Was bleibt sonst nach einer gescheiterten Ehe?“ Aber da sind eben auch die fremden Kinder aus dem Kindergarten, die dank ihrer Arbeit englische Lieder singen und zu Elternabenden Theater spielen. Im Sommer gibt es bestenfalls zwei Wochen Urlaub. Zwar passen die Großeltern auf die Tochter auf, aber zumeist hockt das Kind am Computer.Gergana will sich noch in diesem Jahr „einen ordentlichen Arbeitsplatz in Deutschland suchen“, wo sie hofft, sich mit ihrem Englisch gut verständigen zu können. „Ich muss nicht hochbezahlt sein. Hauptsache, es reicht zum Leben, und es bleibt etwas für meine Tochter übrig – die will ich auf jeden Fall mitnehmen.“
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