Bei der Rettung des Filmerbes kommt dem Bundesarchiv entscheidende Bedeutung zu – dessen Abteilung Film verwahrt die zentrale Filmüberlieferung von BRD, DDR und Deutschem Reich, Bewegtbilder seit 1895. Kritisiert wurde das Bundesfilmarchiv dabei wegen der Vernichtung (Kassation) brandgefährlicher Nitrozellulose-Filme – darunter Kameranegative von Klassikern wie Der Mustergatte (1937, mit Heinz Rühmann) oder Veit Harlans Farbfilm Die goldene Stadt (1942). Nach der selektiven Umkopierung auf modernen Polyesterfilm sind in den letzten 25 Jahren über die Hälfte aller originalen Nitro-Artefakte, die nach 1990 im Bundesarchiv lagerten, entsorgt worden (Freitag 31/2015). Michael Hollmann, seit 2011 Präsident, hat nun zwei denkwürdige Entscheidungen getroffen: Die bislang gängige Kassation von Nitrofilmen wird mit sofortiger Wirkung beendet. Und: In Zukunft soll es keine Kopien auf Analogfilm mehr geben, es wird digitalisiert.
der Freitag: Herr Hollmann, für die Vernichtung von Nitro-Filmen ist das Bundesarchiv gescholten worden. Sie haben diese Praxis jetzt beendet. Warum?
Michael Hollmann: Zunächst möchte ich betonen, dass im Bundesarchiv zu keiner Zeit leichtfertig mit der Frage nach dem Umgang mit Filmen auf Nitrozelluloseträgern umgegangen wurde. Prägend war die Erfahrung, bei einer Explosion von Nitrofilmen im Jahre 1988 nur knapp einer Katastrophe entgangen zu sein. Vor dem Hintergrund wurde im Bundesarchiv eine Hausanweisung zur Kassation formuliert. Eine externe Veranlassung zur Reduzierung der Nitrobestände gründete in der für die Nitromagazine in Hoppegarten durch die Genehmigungsbehörden festgesetzten Obergrenze von maximal 80.000 Filmrollen. Inhaltlich waren die zuständigen Kolleginnen und Kollegen mit der geltenden Regelung nie glücklich, da ein „Kassationsautomatismus“ der beschriebenen Art fundamental dem archivischen Prinzip des Original-erhalts zuwiderläuft. Mit der Unterschreitung der Lagerungsobergrenze war für Bundesarchiv und die Beauftragte für Kultur und Medien (BKM) die Voraussetzung für eine Überprüfung des Umgangs mit Nitromaterialien gegeben. Als Ergebnis einer sorgfältigen Prüfung der rechtlichen und sicherheitstechnischen Aspekte haben wir die besagte Hausanweisung bis auf Weiteres außer Kraft gesetzt und arbeiten nun an einer neuen Richtlinie für den Umgang mit Nitrofilmen.
Ist es nicht tragisch, dass diese Überprüfung so spät kommt?
Selbstverständlich tut jeder Film weh, der unter den gegebenen Bedingungen vernichtet wurde, obwohl das Material noch keine Hinweise auf Zersetzung und damit auf eine erhöhte Entzündungsgefahr aufwies. Schließlich geht es den Gedächtnisinstitutionen um den Erhalt möglichst der Originale. Man darf aber nicht aus dem Blick verlieren, dass es über viele Jahrzehnte hinweg auch international Communis Opinio war, Nitrofilme nach der Sicherung der Bildinhalte zu entsorgen. Es hat etwas gedauert, bis ein differenzierter Umgang mit Nitro sich durchsetzen konnte. Und im Bundesarchiv hat das wegen des Unfalls von 1988 und der darauf rekurrierenden Bauplanungen noch etwas länger gedauert als bei Institutionen im Ausland. Wichtiger war, dass Nitrofilme sich als haltbarer erwiesen haben als lange angenommen.
Zur Person
Michael Hollmann, geb. 1961, studierte in Mainz Germanistik und Geschichtswissenschaft. Promotion 1988, von 1989 an im Bundesarchiv, seit 2011 als Präsident – der sich auch mit dem Abbau eines Drittels des Personals in den letzten Jahren konfrontiert sieht
Foto: Raimond Spekking/CC BY-SA 4.0
Wie wird das Bundesarchiv in Zukunft mit Nitrofilmen verfahren?
Die nun geltende Regelung sieht vor, dass nach wie vor diese Filme auf Sicherheitsfilm umkopiert beziehungsweise künftig digital gesichert werden. Die originalen Filme werden nicht mehr umgehend entsorgt, sondern in den Nitromagazinen des Bundesarchivs gelagert. Erst wenn ein Film Zersetzungserscheinungen aufweist – mit deren Einsetzen eine Steigerung des Entzündungsrisikos einhergeht –, muss er künftig vernichtet werden. Da lassen die gesetzlichen Regelungen tatsächlich keinerlei Spielraum mehr. Alle Nitrofilme werden wie bislang in regelmäßigen Abständen von längstens zwei Jahren auf ihren Zustand hin überprüft. Sollte dabei ein noch nicht gesicherter Film entdeckt werden, wird dieser umgehend digitalisiert.
Jetzt soll die Kopieranstalt des Bundesarchivs in Berlin-Hoppegarten geschlossen werden und Archivfilme nur noch als Digitalisate gesichert werden.
Wir werden die beiden Kopierwerke stilllegen und auf die digitale Sicherung des filmischen Archivguts umstellen. Alle großen Filmarchive sind im Begriff, umfangreiche Digitalisierungsprojekte und -strategien zu entwickeln, oder haben diesen Schritt bereits vollzogen. Maßgeblich dafür sind die Konsequenzen, die der allgemeine digitale Wandel auch für die Archive zeitigt. Zunächst ist das die weitgehende Umstellung der „Filmwelt“ auf die digitale Technik. Das bedeutet, dass für den Bereich der Filmarchivierung – ebenso wie für nahezu alle anderen Überlieferungsbereiche – ein digitales Archiv aufgebaut werden musste, das genuin digitale Überlieferungsformen ohne jede zeitliche Befristung archiviert. Die Methoden und Strategien des Bundesarchivs folgen im Wesentlichen dem OAIS-Standard, dem Open Archival Information System. Eine zusätzliche Sicherung in Form analoger Kopien kann das Bundesarchiv mit der momentanen Ressourcenausstattung nicht leisten. Das Bundesarchiv ist aber gerne bereit, bei Vorschlägen zum Weiterbetrieb der analogen Kopierwerke durch Dritte vermittelnd zu unterstützen.
Digitale Daten sind weniger langlebig als fotochemische Filme und erheblich pflegeaufwendiger.
Im direkten Vergleich zwischen Film und einem elektronischen Speichermedien wie Disketten oder DVDs als Trägermaterialien. Die digitale Archivierung folgt jedoch anderen Strategien und Methoden. Digitales Archivgut wird in „lebenden“ Mischsystemen aus Speicherplatten und Bandsystemen mehrfach redundant und an verschiedenen Orten gesichert. Es werden dadurch keine Datenträger wie DVDs, sondern Daten unabhängig von ihrem ursprünglichen Speichermedium archiviert. Die Pflege dieser Daten erfolgt im Rahmen eines sogenannten Preservation-Planning-Systems weitgehend automatisch. Den hierfür sicherlich benötigten Technologien und Speichermedien steht eine konventionelle Archivierung von analogen Filmmaterialen gegenüber, die ebenfalls erhebliche Ressourcen voraussetzt und hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit und langfristigen Verfügbarkeit mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist. Für konventionelle Magazine muss das Bundesarchiv Miete in beträchtlicher Höhe zahlen, die Pflege der analogen Filme ist sehr personalintensiv.
Im Barbarastollen bei Freiburg lässt die Bundesregierung herausragende Kulturdokumente als Mikroverfilmungen einlagern, die über 500 Jahre haltbar bleiben. Das gleiche Verfahren wäre für Kinofilme möglich. Fallen wir mit der Digitalisierung nicht hinter diesen Anspruch zurück?
Abgesehen davon, dass auch die Langzeitsicherung von Kopien wirtschaftlichen Argumenten folgen muss, steht die Art der Sicherung von Kulturgut grundsätzlich zur Debatte. Es ist fraglich, wie lange uns noch in ausreichendem Maße und finanzierbar Rohfilm zur Verfügung stehen wird. Auch die Verfügbarkeit der analogen Technologie kann nicht als langfristig gewährleistet angesehen werden. Sollte die Entwicklung der kommenden Jahre diesen Erwartungen entgegenlaufen, steht einer Ausbelichtung der im digitalen Magazin des Bundesarchivs gesicherten Digitalisate nichts entgegen.
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