Ein Archiv ist ein merkwürdiger und aus der Sicht des Benutzers vermutlich ein kafkaesker Ort. Es ist seinem Begriff nach offen und geschlossen zugleich. Einerseits ein offizielles, öffentliches Amt - im Lateinischen meint Archiv nichts anderes als Amt, Behörde und Regierung -, andererseits eine Arche - aus dem Lateinischen arcanus -, also etwas Verschlossenes, Verschwiegenes, Geheimes und nur Befugten Zugängliches. Genau diese Doppeldeutigkeit macht das Archiv für den Benutzer zwar zu einem vertrauten, aber ebenso zu einem gefährlichen und üblen Ort, einem "archive du mal", wie Derrida sagt. Denn in jeder Minute können sich die Türen des Archivs schließen.
Das Frankfurter Adorno-Archiv hat sich, glaubt man den Erfahrungsberichten der Biographen, die pünktlich zu Adornos 100. Geburtstag auf den Plan getreten sind, als ein solcher verschlossener Ort gezeigt und ist entsprechend in die Kritik geraten. Man sei, so ließen die Mitarbeiter daraufhin verlauten, nun mal kein öffentliches Amt, sondern privat finanziert und verfolge darüber hinaus eigene editorische Interessen. Umso gespannter konnte man deshalb sein, mit welchen eigenen Arbeiten das Archiv zur Flut biographischer Adorno-Literatur des noch andauernden "Adorno-Jahres" beitragen würde. Neben den mit gewohnter Souveränität editierten Briefwechseln Adornos mit seinen Eltern, seinen Frankfurter Verlegern Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld und mit Max Horkheimer waren das vor allem die Ausstellung Theodor W. Adorno. Denken im 20. Jahrhundert sowie die hiermit korrespondierende Adorno-Bildmonographie.
Die Geschichte der Ausstellung ist von einiger Pikanterie. Eröffnet wurde sie nämlich nicht an dem nahe liegendem Ort, in Frankfurt, der Geburtsstadt Adornos, sondern im international renommierten Züricher Literaturmuseum Strauhof. Zu der Zeit als der Adorno-Biograph Stefan Müller-Doohm während einer Gastprofessur in Zürich die Möglichkeit erkundete, ob hier eine Ausstellung zu Leben und Werk Adornos zu realisieren sei, schien man sich in Frankfurt noch gar nicht darüber im Klaren zu sein, dass das Adorno-Jahr auf die Stadt zukommen würde. Es gab einige vage Vorüberlegungen, etwas zu organisieren, aber es war noch nichts in Gang gebracht worden - schon gar keine Pläne für eine Ausstellung. Anders dagegen die Situation in Zürich. Es zeigte sich schnell, dass das Kulturamt der Stadt in der Lage sein würde, eine solche Ausstellung zu finanzieren, so dass auch das Adorno-Archiv, das bei der Gestaltung freie Hand erhielt, mit ins Boot geholt werden konnte. In dem Moment, als sich das in Frankfurt herumsprach, versuchte die so genannte Adorno-Stabsstelle bei der Oberbürgermeisterin, die inzwischen eingerichtet worden war, noch auf den Zug, der in Zürich schon abgegangen war, aufzuspringen. Als dort die erste vorbereitende Sitzung stattfand, lud sich ein Vertreter der Stabsstelle ein und versuchte noch zu erreichen, dass die Ausstellung doch zuerst in Frankfurt eröffnet wird. Aber es lief wie ursprünglich geplant: Eröffnet wurde sie Anfang September in Zürich, in Kombination mit einem Kongress zur Ästhetik Adornos. Und dann erst, ab dem 19. November, sollte nach Frankfurt kommen.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen: eine Schau mit sieben thematischen Räumen, die das gesamte Leben Adornos von der frühen Kindheit, dem Studium in Frankfurt, der Zeit als Musikkritiker, der Emigration und seine Rückkehr ins Nachkriegsdeutschland behandeln. Der Besucher wird zunächst durch eine dunkle Höhle geführt: einen schlauchförmigen, abgedunkelten, mit Stahlstelzen durchbrochenen Raum. An der Wand Bilder vom alten und zerstörten Frankfurt und Zitate von Adorno, die der Angst und der Kälte gelten. Von der Eingangsszene abgesehen, bleibt die Darstellungsform angemessen nüchtern und sachlich. Gezeigt werden eine große Anzahl erstmals veröffentlichter Lebenszeugnisse aus Adornos Nachlass: Manuskripte, Vorlesungsnotizen, Briefwechsel, Photographien, Filmdokumente und Radiogespräche. Richtige Schätze sind zu bewundern, wie etwa der erste Brief des 16-jährigen Adorno an Schönberg oder private Tagebuchnotizen, die keiner der bisherigen Adorno-Biographien als Material zur Verfügung standen. Eine der Höhepunkte der Ausstellung stellt zweifelsohne die Dokumentation der Arbeitsweise Adornos dar, exemplarisch dargestellt an der Entstehung des Jargons der Eigentlichkeit. "Lämmergeiern" nannte Adorno den Prozess des wiederholten Umarbeitens seiner Texte, bis kaum noch ein Stein auf dem anderen stand.
Der Kenner und Liebhaber kann sich an der Aura von Erstausgaben und bislang unbekannten Photographien des Privatmanns Adorno erfreuen. Allerdings vertrauten die Macher wohl manchmal zu sehr auf die eigene Wirkung der Exponate. Hier und da zusätzliche Erläuterungen, die die einzelnen Dokumente nachvollziehbarer in Beziehung zueinander gesetzt hätten - das hätte sich sicherlich nicht nur der mit dem Leben und Werk Adornos völlig Unvertraute gewünscht. Weil so manche Zusammenhänge im Dunklen bleiben und auch das Werk nur am Rande Erwähnung findet, bleibt der Interessierte auf weiterführende Informationen angewiesen.
Die finden sich in der ebenfalls vom Adorno-Archiv herausgegebenen Adorno-Bildmonographie. Schon einige Zeit vor Eröffnung der Ausstellung erschienen, dient sie zugleich als offizieller Ausstellungskatalog. Tatsächlich sind fast alle Dokumente der Ausstellung hier noch einmal versammelt, aber auch noch einiges mehr. Hervorzuheben sind hier insbesondere die Tagebücher, die Adorno seit seinem neunten Lebensjahr mit Unterbrechungen führte. Da berichtet der frühreife 13-Jährige, dass er vormittags Eichendorff und nachmittags Goethe liest, reflektiert über seine Fortschritte bei der Niederschrift eines Dramas und zählt dann brav seine Zeugnisnoten auf. Turnen: mangelhaft. Bemerkenswert ist auch die ausführliche Dokumentation des Briefwechsels Adornos mit Siegfried Kracauer. Bemerkenswert deshalb, weil die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur als Inhaberin der Rechte an Adornos Texten es strikt untersagt, aus der im Deutschen Literaturarchiv Marbach öffentlich zugänglichen Korrespondenz zu zitieren.
Die versammelten Dokumente und die hilfreiche Kommentierungen, die den roten Faden herstellen, der in der Ausstellung manchmal verloren zu gehen droht, ergeben ein in mancherlei Hinsicht ergänzendes Bild der bisherigen Forschung zur Biographie Adornos. Ob sich dadurch aber, wie der Klappentext verspricht, eine "neue und unerwartete Perspektive auf das Leben und Werk Theodor W. Adornos" eröffnet, kann bezweifelt werden. Adorno gehörte auch schon vor seinem 100. Geburtstag, im Zuge dessen sein Leben eine neue Aufmerksamkeit erfuhr, zu den am ausführlichsten beschriebenen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Das mag auch der Grund gewesen sein, weswegen man sich vom Ertrag der inzwischen vorliegenden Biographien zumeist enttäuscht zeigte. Vielleicht ein Anlass, sich jetzt wieder seinen Texten zu widmen, wofür die weitere Veröffentlichung der Vorlesungen neue Impulse geben dürfte.
Die Ausstellung Theodor W. Adorno. Denken im 20. Jahrhundert ist vom 19. November bis 14. Februar im Historischen Museum in Frankfurt am Main zu sehen.
Adorno. Eine Bildmonographie, bearbeitet von Gabriele Ewenz, Christoph Gödde, Henri Lonitz und Michael Schwarz, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, 296 S.,
24,90/39,90 EUR
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