Wie Münchhausen denken

UNHÄUSLICH Adornos Minima Moralia sind vor fünfzig Jahren erschienen

Es gibt einen Satz von Rilke, nach dem die Geschichte des zerbrochenen Lebens nur in Bruchstücken erzählt werden könne. Man kann sich kaum ein passenderes Motto für die Minima Moralia vorstellen. Adornos Reflexionen aus dem beschädigten Leben, so der Untertitel, sind eine Sammlung von 153 Textfragmenten. In oftmals widersprüchlichen Denkbewegungen, lose und unverbindlich in der Form, werden theoretische Überlegungen durch die Reflexion individueller Erfahrungen dargeboten, die auch 50 Jahre nach ihrem Erscheinen noch faszinieren.

Die Entstehungsgeschichte der Minima Moralia geht bis in das Jahr 1935 zurück. Adorno befand sich zu dieser Zeit im englischen Exil in Oxford und stellte dem bereits in die USA emigrierten Horkheimer ein "Aphorismenbüchlein" in Aussicht, "dem Sie undeutliche Sprache nicht werden nachsagen können". Es sollte an Horkheimers Dämmerungen anschließen, jener Sammlung von zwischen 1926 und 1931 entstandenen Aphorismen und Beobachtungen der Weimarer Zeit, die Horkheimer 1934 unter dem Pseudonym Heinrich Regius veröffentlichte, nur dass der geplante Aphorismenband Adornos "durchaus die Situation im vollzogenen Faszismus behandelt. Titel: "Der gute Kamerad." Zu einer Publikation, um die er schon an dieser Stelle bat, ist es nie gekommen, und von dem Manuskript fehlt jede Spur. Es ist aber davon auszugehen, dass vereinzelte Motive und Textfragmente in die Minima Moralia Eingang fanden, mit deren Niederschrift Adorno 1944 im kalifornischen Exil begann. Ein Jahr später waren die ersten beiden Teile fertiggestellt und konnten Horkheimer mit einer Widmung zu seinem 50. Geburtstag überreicht werden. 1947 mit einem dritten Teil abgeschlossen, erscheint das Buch schließlich im März 1951, eineinhalb Jahre nach der Remigration Adornos, im Suhrkamp-Verlag.

Schon vier Monate später konnte Adorno seinem Freund Siegfried Kracauer mitteilen, dass er "bekannt wie ein bunter Hund damit geworden" sei. Trotz der breiten Aufmerksamkeit - bis zum Ende des Jahres waren 60 Besprechungen beim Verlag eingegangen - musste das Buch jedoch ein Stachel im kulturellen Klima der Nachkriegszeit bleiben. So wie es einen Angriff gegen den restaurativen Zeitgeist war, bediente es ebenso wenig das Bedürfnis nach einer Neuorientierung und dem allzu schnellen Anknüpfen an die bürgerliche Kultur, die nur die andere Seite des Mythos der Stunde Null darstellt. Angesichts des mit dem Namen Auschwitz verbundenen Zivilisationsbruchs ist für Adorno nicht die Zeit für positive Leitbilder: "Millionen Juden sind ermordet worden, und das soll ein Zwischenspiel sein und nicht die Katastrophe selbst. Worauf wartet diese Kultur eigentlich noch?" Die Rhetorik der Minima Moralia ist die des Innehaltens und der Bestandsaufnahme; ihr Geschäft ist zunächst das der Zerstörung. Mit bösem Blick noch auf die kleinsten alltäglichen Begebenheiten - die Prozedur des Schenkens, des Schließens einer Tür, Kommunikation, Erotik - wird das darin liegende Scheinhafte und die darunter liegende Gewalt entlarvt: "die Fähigkeit miteinander zu sprechen erstickt", die "Möglichkeit unreglementierten Glücks ist verschwunden", Individualität wird "liquidiert", es gibt nur noch "standardisierte und verwaltete Menscheneinheiten". In immer wieder neuen Variationen wird der fortschreitende Verfall der bürgerlichen Welt nachvollzogen. Die Grundstimmung des Buches ist Traurigkeit, die immer wieder in Wut und Verzweiflung umschlägt.

Von welcher Position aus, so wurde damals und wird heute gefragt, betreibt der Autor aber seine Generalabrechnung mit Gesellschaft und Kultur? Muss der Kritiker nicht seine Maßstäbe, mit denen er urteilt, aus genau der Welt nehmen, der er den Prozess macht? Adorno war sich der Bodenlosigkeit der Argumentation seines, wie er es einmal nannte, "unhäuslichen Buchs" wohl bewusst. Seine Reflexionen reagieren auf eine historische Situation, in der das Denken alle festen Angelpunkte verloren hat und sich folglich auch das intellektuelle Engagement seines Fundaments nicht mehr sicher sein kann. Der Gesellschaftskritiker wird, abgeschnitten von allen Traditionen, zum Exilanten, zu einer displaced person, für die der Gestus Münchhausens, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht, zum erkenntnisleitenden Motiv wird.

Für Adorno ist diese Position nicht nur Metapher geblieben. Hatte er anfangs noch gehofft, der Nationalsozialismus werde schnell wieder zusammenbrechen, emigrierte er 1934 zunächst nach England und von dort aus in die USA, wo Max Horkheimer bereits das Institut für Sozialforschung wiedereröffnet hatte. Die Minima Moralia sind ein Dokument auch dieser von Adorno als traumatisch erlebten Erfahrung der Entwurzelung. Beschädigt ist, so heißt es in einem Aphorismus mit dem Titel ›Schutz, Hilfe und Rat‹, jeder Intellektuelle in der Emigration - "ohne alle Ausnahme". Vertreibung und Exil unterbrechen die Kontinuität des gelebten Lebens und versetzen den Intellektuellen in eine Umwelt, "die ihm unverständlich bleiben muß (...) immerzu ist er in der Irre." Seiner bisherigen Erfahrungen als Quelle der Erkenntnis beraubt, die als "nicht transferierbar und schlechterdings artfremd erklärt" werden, kann sich der Emigrant einzig durch die Anpassung an die kulturellen und ökonomischen Imperative des Gastlandes rechtfertigen. Derjenige dagegen, der insoweit ökonomisch abgesichert ist, dass er der "Gleichschaltung" enthoben ist, "trägt als sein besonderes Mal eben diese Enthobenheit, eine im Lebensprozess der Gesellschaft scheinbare und irreale Existenz."

Wenn es aber doch nur ein zeitlich befristete Verbannung wäre! Diese ließe die Möglichkeit des sehnsuchtsvollen Rückblicks auf das Verlorene, das der neuen Welt entgegengehalten werden kann und eine vage Hoffnung auf die Rückkehr an einen sicheren Ort. Heimat aber ist - auch wenn nach Adorno in der Emigration jeder deutsche Rehbraten so schmeckt, als hätte ihn der Freischütz persönlich erlegt - unwiederbringlich verloren. Nach Auschwitz gibt es kein Zurück. Alle Kultur steht unter dem Verdacht der Mitschuld an dem, was geschah. Abgeschnitten von der Möglichkeit eines positiven Bezugs auf eine Tradition befindet sich der Kritiker endgültig in einem Niemandsland. In dem Fragment ›Asyl für Obdachlose‹ ist dieser Zustand prägnant beschrieben: "Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind, haben etwas Unerträgliches angenommen: jeder Zug des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt."

Für Adorno wurde Heimatlosigkeit deshalb zu einem moralischen Imperativ intellektueller Verantwortung. Dies hat freilich nichts mit einem fröhlichen Nomadismus der Postmoderne gemein, der sich im Spiel mit Standorten und Perspektivwechseln erschöpft. Heimatlosigkeit ist beides: der Grund schmerzlichen Leidens, aber auch die Quelle intellektueller Freiheit. Wenn einem nichts geschenkt wird, schuldet man auch keinem was. Der Intellektuelle, der sich in einer Paria-Stellung außerhalb der Gesellschaft befindet, braucht keine Rücksichten auf falsche Loyalitäten zu nehmen. Von den Rändern aus sieht er Dinge, die andere nicht sehen und keine Vorurteile trüben seine Urteilskraft. In einem Brief an Thomas Mann schreibt Adorno, der "kalifornische Standort", an den er nach seiner Remigration zwischenzeitlich zurückgekehrt war, um die amerikanische Staatsbürgerschaft nicht zu verlieren, habe den Vorzug des Realeren: "Mit anderen Worten, man ist nirgends mehr zu Hause und darüber sollte freilich wiederum der, dessen Geschäft die Entmythologisierung ist, nicht allzu sehr sich beklagen."

Von Kritikern hat Adorno dies den Vorwurf eingetragen, er habe die Vereinsamung der Emigration nie verlassen und die theoretische Reflexion zunehmend von der gesellschaftlichen Praxis abgekoppelt. Es stimmt, Adornos Exilerfahrung und der Schock von Auschwitz wird für seine Konzeption des Intellektuellen als eines ständigen Emigranten bestimmend. Aber vielleicht ist es gerade die Zeitgebundenheit der "Reflexionen aus dem beschädigten Leben", in denen deren Bedeutung auch für heute liegt. Das 20. Jahrhundert hat mehr Flüchtlinge, displaced persons und Orte des Exils produziert als jemals ein anderes zuvor in der Geschichte. Neue Globalisierungs- und Migrationsbewegungen treiben immer mehr Menschen in den Zustand der Entortung, Heimatlosigkeit hat aufgehört, das Schicksal einer Minderheit zu sein. Traditionen verflüssigen sich und an ihre Stelle treten Ansätze einer grenzüberschreitenden Kultur der Hybridität, die alle Debatten um Leitkultur als heillosen Anachronismus erscheinen lassen. So gesehen können die Minima Moralia als ein Text gelesen werden, der auf eine Situation reflektiert, der sich heute - freilich unter anderen Vorzeichen - Theoretiker des Postkolonialismus wie Edward Said, Stuart Hall oder Homi Bhaba stellen.

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