Angst vor der Macht

Piraten Die Partei steckt in der Krise. Wer sie mit dem kühlen Blick der Systemtheorie beobachtet, erkennt ihre große Schwäche

In der Bundesrepublik ist nun schon zum dritten Mal eine neue Partei gegründet worden. Bündnis 90/Die Grünen entstand aus einer Protestbewegung gegen die Vernachlässigung des Umweltschutzes durch die etablierten Parteien. Die Linke entstand aus einer dreifachen Protestbewegung gegen das Verschwinden einer staatstragenden Partei in der alten DDR, gegen den Abbau der Gewerkschaftsmacht durch die Sozialdemokratie und gegen die mangelnde Gerechtigkeit im Umgang mit den historischen Erfahrungen Ostdeutschlands. Und der deutsche Ableger der Piratenpartei entstand aus einer Protestbewegung gegen ein Urheberschutzgesetz, das die Entfaltung der „Informationsgesellschaft“ behindert, und gegen die Vernachlässigung neuer Kommunikationsmedien durch die etablierten Parteien.

Jede dieser Neugründungen ist ein gelungenes Beispiel für die Fähigkeit der Bundesrepublik, Protestbewegungen aufzufangen und ihren Anliegen ein politisch geordnetes Gehör zu verschaffen. Für die etablierten Parteien sind diese Neugründungen eine notgeborene Gelegenheit, ihre Themen und Personen neu zu sortieren. Für die Wähler sind sie eine Gelegenheit, die eigenen Präferenzen neu zu sichten, aber auch die Verteilung politischer Kräfte neu einzuschätzen. Und für die neuen Parteien selbst sind sie eine Lehrstunde in Sachen Demokratie.

Jede dieser Neugründungen ist für die alten wie für die neuen Parteien eine Gelegenheit, sich einer institutionellen Wirklichkeit zu vergewissern, die im semantischen Überschwang der Parteiprogramme und Wahlkampfreden nur allzu leicht aus dem Blick gerät. Im Fall des überraschenden Erfolges der Piratenpartei verläuft diese Lehrstunde in Sachen Demokratie für die Öffentlichkeit besonders unterhaltsam, für die Beteiligten aber besonders mühsam, weil nicht nur Themen und Leute, sondern zugleich auch Kommunikationsgewohnheiten zur Diskussion stehen.

Das Missverständnis

Das war bei den Grünen und der Linken ähnlich, weil im ersten Fall die Kritik der Autoritäten (zugunsten einer neuen Rolle des nicht professionell orientierten, sondern laienhaften Experten) und im zweiten Fall die Kritik des „Systems“ (zugunsten einer Stärkung der Rolle des Staats) in eine Politik eingespeist werden musste, die ohne die Autorität institutionalisierter Verfahren und ohne ein System, das den Staat ebenso sehr einzudämmen wie zu stärken versucht, nicht auskommt. Bei den Piraten ist diese Problematik zwar nicht unbedingt stärker, aber zumindest sichtbarer vorhanden, weil sie im Medium der Verbreitung und Vernetzung der Kommunikation durch Computer stattfindet. Anders als Wahlzettel, Parteiprogramme und ausgezählte Stimmenmehrheiten verändern Bildschirme, Tastaturen, Verknüpfungsmöglichkeiten und Rechenverfahren die Art und Weise, wie Politik gemacht wird.

Ebenso wie seinerzeit die Grünen und die Linke stehen die Piraten vor der Aufklärung eines Missverständnisses. Es existiert, seit man vergessen hat, warum schon die alten Griechen zwischen demos und ethnos unterschieden haben, zwischen einem Staatsvolk und einem Stammesvolk. Ein Stammesvolk definiert seine Zugehörigkeit durch Herkunft und Geburt. Zu einem Staatsvolk hingegen gehören nur die, die sich einen Staat gegeben haben und von ihm in schönster Zirkularität als Zugehörige definiert werden. Deswegen herrscht in einer Demokratie nicht einfach das Volk, vielmehr herrscht das Volk über sich. Es kommt zweimal vor. Es herrscht. Und es wird beherrscht. Das Missverständnis, das mit jeder Parteigründung neu aufgeklärt werden muss, besteht darin, dass es eine Herrschaft des Volks ohne seine Beherrschung geben kann. Möglicherweise ist dieses Missverständnis in den Prozess der Umwandlung einer Protestbewegung in eine Partei bereits eingebaut. Hat eine Protestbewegung ihre Gegner, gegen die sie wegen der Vernachlässigung eines Themas protestiert, nur allzu klar vor Augen, kommt sie nicht auf die Idee, dass diese Gegner beherrscht werden müssten, käme die Protestbewegung als Partei an die Macht. Vielmehr setzt sie die Eroberung der Macht mit der Möglichkeit der Durchsetzung des Themas gleich. Aber die Macht garantiert die Durchsetzung des Themas nicht, ermöglicht nur ihre Ausübung über diejenigen, die sie jetzt nicht mehr haben. Wer jetzt keine Macht mehr hat, ist aber nicht einfach verschwunden, in einer Demokratie befindet er sich in der Opposition und will die Macht zurückgewinnen.

Man kann den nun etwas abflauenden Überraschungserfolg der Piratenpartei als einen Beleg dafür werten, dass sich alle Beteiligten noch einmal mit Lust vorgestellt haben, man könne Macht ausüben, ohne über jemanden zu herrschen. Das ist eine der großen Illusionen der Moderne schlechthin: dass sich immer dann, wenn die Vernunft einer Sache deutlich wird, wie zum Beispiel der ökologische Umbau der Gesellschaft oder die Reform des Urheberrechts, der Widerstand gegen sie von selbst erledigt. Letztlich läuft diese Illusion auf die nicht zufällig in Deutschland besonders verbreitete Meinung hinaus, Machtausübung sei an sich eher böse und könne mit hinreichendem Sachverstand erübrigt werden. Man braucht die Macht nur für jenen Augenblick, in dem die Unbelehrbaren von ihren Posten vertrieben werden müssen. Danach setzt sich in einer Art Objektokratie die Einsicht in die Vernunft wie von selbst durch, und die Politik kann sich darauf beschränken, zu ihrer Durchsetzung geordnete Verfahren bereitzustellen.

Die Utopie der Piratenpartei, die viele Beobachter nur allzu gerne geteilt haben, lautet, dass sich über basisdemokratische Partizipation im Netz, über liquid democracy, ein solches Verfahren bildet. Dass also die verteilte und am Computer zusammengeführte Arbeit an Textvorschlägen der Widerstand derjenigen Parteimitglieder, deren Ideen in dieser Arbeit keine Verstärkung finden, wie auch der Widerstand derer, die keine Textvorschläge einbringen und sich an der Arbeit nicht beteiligen, von selbst erledigt, weil die Initiativen aller anderen nicht nur sichtbar, sondern auch transparent, das heißt überprüfbar sind.

Aber diese Utopie stürzt die Piratenpartei gegenwärtig nur immer tiefer in die Krise. Mit jedem neuen Thema, das sie aufzugreifen versucht, um der Erwartung gerecht werden zu können, zu jedem politischen Thema eine eigene Meinung zu haben, entdeckt sie, dass diese Themen keine natürlichen Konsensthemen, sondern gesellschaftliche Dissensthemen sind. Sie entdecken, dass sie angefangen beim ureigenen Thema des Urheberrechtsschutzes nur politikfähig werden, wenn sie nicht etwa ihren Konsens verallgemeinern und vertreten, sondern den Dissens selber organisieren. Das haben auch die Christ-, Sozial- und Freidemokraten mühsam lernen müssen. Demokratische Politik entsteht daraus, nicht nur dem herrschenden, sondern auch dem beherrschten Volk eine Stimme, nein: viele Stimmen zu geben. Die beiden Völker sind nicht miteinander identisch. Das indirekt regierende und das direkt repräsentierte (oder war es umgekehrt?) können nicht einfach übereinander geblendet werden. Sie befinden sich in einer unauflöslichen Spannung, die ihren Ausdruck in einer Demokratie darin findet, dass es zu jeder Macht auch eine Opposition gibt, die schon bei der nächsten Wahl die Macht erobern kann.

Das intelligenteste System

Die Zumutung der Demokratie besteht nun darin, dass sich politische Parteien jederzeit als Regierung und in der Opposition denken müssen. Es ist in der Tat das intelligenteste System, das wir haben. Denn nur so zwingt sich die Politik und mit ihr jede Partei, das gesellschaftliche Umfeld im Blick zu behalten, das Anlass hat, mal dieser und mal jener Partei ihre Stimmen zu geben. Und wenn das Volk einmal gelernt hat, sich zu beherrschen, ist es zur Einsicht, dass die Gesellschaft für die Politik einen Unterschied macht und nicht etwa deren Gegenstand ist, nicht mehr weit. Man wird sehen, ob Piraten ein Schiff nicht nur zu entern verstehen, sondern auch lernen, Respekt vor Mannschaft und Ladung zu haben. Wie Hedgefonds neigen auch Piraten dazu, sich die Rosinen herauszupicken und sich für alles Weitere auf die Fluidität zwar nicht des Geldes und auch nicht des Wassers, aber doch der elektronischen Medien zu verlassen. Das wird in einer Demokratie, die ihre Politik für eine vielfältige Gesellschaft organisieren muss, nicht genügen.

Dirk Baecker ist Soziologe und Professor für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee

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