Was feiern?

JUBILÄUM Das Ereignis der Geschichte

Es gehört zu den Ironien der 10 Jahre nach der Wende, dass die ostdeutsche Bevölkerung zumindest in einem Punkt nach wie vor in derselben Situation ist wie vor der Wende: Wie der Sozialismus verlangt auch der Kapitalismus von jedem einzelnen, von seiner individuellen Situation absehen zu können und den Fortschritt des Ganzen gebührend und dankbar in den Blick zu nehmen. Weniges erklärt die wachsenden Verstimmungen zwischen Ost und West in diesem Lande besser als die Weigerung der Ostdeutschen, dieses Spiel noch einmal mitzuspielen. Und sie haben Recht. Denn der Westen verlangt von ihnen, sich von der Hoffnung auf den Kommunismus zu verabschieden, zugleich jedoch den Kapitalismus hier und jetzt in seiner ganzen Unvollkommenheit als Zeichen der eingelösten Utopie zu nehmen. Man will sich nicht mehr vertrösten lassen und muss zugleich zur Kenntnis nehmen, dass die westdeutsche Einlösung der Utopie nur um den Preis einer geschlossenen Gesellschaft zu haben ist.

Wer der einen Ideologie gerade entronnen ist, ist auf der Hut, sich gleich der nächsten in die Arme zu werfen. Statt dessen besteht man auf seiner individuellen Situation, auf seiner ganz persönlichen Gegenwart, auf seiner eigenen Geschichte und ist auch bereit, diese Situation, diese Gegenwart und diese Geschichte auf eine trotzige, ja notfalls sogar gewalttätige Weise zu dokumentieren, wenn anders keine Aufmerksamkeit zu gewinnen ist. Und auch hier hat man das Recht auf seiner Seite. Immerhin ist die Wende von 1989 jenes Ereignis, das das Recht des individuellen, des zufälligen, des historisch kontingenten und des gerade deswegen erfindungsreichen Ereignisses gegen die großen Linien der Geschichte, gegen die Gesetze des Fortschritts ins Feld geführt hat. Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Sozialismus zusammenbrechen musste. Die alten Hierarchien und Bürokratien konnten keinen Anspruch mehr darauf erheben, die Komplexität der modernen Gesellschaft, ihre strukturellen Spannungen, ihre Heterogenität, ihre Riskiertheit und ihre Mechanismen der Informationsverarbeitung auch nur ansatzweise "im Griff" zu haben. Die moderne Gesellschaft kann sich nur noch als Netzwerk, das heißt unter Verzicht auf zentrale Instanzen selber steuern.

Die Geschichte, die sich 1989 ereignet hat, musste sich ereignen, und dennoch war es Zufall, dass sie sich gerade zu diesem Zeitpunkt ereignete. Das macht auch das Jubiläumsgedenken zehn Jahre später so unbeholfen. Denn es ist nicht schwer zu sehen, dass manche im Osten, vor allem jedoch viele im Westen das Ereignis von 1989 erst noch vor sich haben und dass viele im Osten, aber auch manche im Westen es schon sehr viel länger als zehn Jahre hinter sich haben.

Was also kann man jetzt, zehn Jahre später, feiern? Der Osten feiert die anspruchsvolleren Arbeitsplätze, so er welche hat, und die bessere Versorgung, so er sie sich leisten kann. Der Osten feiert jedoch auch das Schnippchen, das er den Teleologien und Totalitarismen dieser Moderne geschlagen hat. Und was feiert der Westen? Natürlich den Triumph des eigenen Gesellschaftsmodells. Aber dieser Triumph wirkt seltsam schal. Noch nie musste man dem Kapitalismus so unverstellt ins Angesicht sehen. Als hätte er keine "Alternative" mehr zu fürchten, feiert er als "Neoliberalismus" eine Wiederauferstehung, mit der man wohl noch weniger gerechnet hat als mit dem Zusammenbruch des Sozialismus. Und es ist ein Neoliberalismus, der wie ein Hohn auf die alte Hoffnung wirkt, im Liberalismus jenes System gefunden zu haben, in dem der einzelne am wenigsten Schaden anrichten kann, weil ihm durch die Konkurrenz mit anderen rechtzeitig Einhalt geboten werden kann. Dieser Liberalismus hat nicht mit jenen Großorganisationen gerechnet, die als Behörden, Verbände und Konzerne die moderne Gesellschaft beherrschen und die zwar immer noch sicherstellen, dass der Einzelne keinen Schaden anrichten kann, dafür jedoch in ihrem Verbund um so unkontrollierbarer werden.

Die Nostalgie der Ostdeutschen hat darin ihr Motiv, dass ihnen das Geschenk, mit eigenen Ereignissen Geschichte machen zu können, kurz nach der gelungenen Verzweigung auch schon wieder aus den Händen genommen wurde. Daran ist niemand Schuld außer einer Gesellschaft, die sich über das Zusammenspiel zweier konträrer Strukturprinzipien reproduziert, nämlich der historischen Kontingenz zum einen und der strukturellen Determination zum anderen. Kaum tut sich ein neues Fenster auf, greifen Dutzende von Mechanismen und Strukturen, um den Blick aus diesem Fenster nicht zu verhindern, nein, sondern um ihn kompatibel zu machen mit allen anderen Fenstern dieser Gesellschaft.

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