Wir scheitern an der Bürokratie

Staatsversagen Die deutsche Pandemiebekämpfung verpatzt die Balance zwischen Sachlichkeit und Befindlichkeit
Ausgabe 12/2021
Wir scheitern an der Bürokratie

Illustration: der Freitag

Der Befund liegt auf der Hand. Deutschland hat sowohl zu viel Bürokratie als auch zu wenig. Fälle wie die Beschaffung von Masken, die Bestellung von Impfstoff und die Impfkampagne belegen es. Deutschland hat zu viel Bürokratie, um vor Ort mit der erforderlichen Improvisation das Nötige tun zu können. Und es hat zu wenig Bürokratie, um einen Informationsfluss zu organisieren, der die Fälle vor Ort mit den mittleren Ebenen der Länder und des Bundes, mit Ministerien und Krisenstäben verlässlich verknüpft.

Die aktuelle Misere bei der Bekämpfung der Pandemie hat nicht nur im unkalkulierbaren Auftreten neuer Virusvarianten ihren Grund, nicht nur im statistischen Nebel, in dem sich das Infektionsgeschehen nach wie vor bewegt, und nicht nur im notwendigen Streit der Politik über den richtigen Weg. Sondern offenbar auch darin, dass die Bürokratie hierzulande regelrecht auf dem falschen Fuß erwischt worden ist: Vor Ort ist sie unzureichend ausgestattet, um Routine und Improvisation sinnvoll kombinieren zu können. Zwischen den Ländern und dem Bund ist sie zu föderal aufgestellt, um ein verlässliches Krisenmanagement leisten zu können. Und im Bund ist sie ebenso Spielball politischen Ehrgeizes wie unzureichend abgestimmt mit europäischen Partnern und der Europäischen Kommission.

Man muss sich genauer anschauen, welche Behörden mit welchem Personal und welchen Kompetenzen ausgestattet sind, um welche selbstverständlichen wie außergewöhnlichen Maßnahmen treffen zu können. Man muss sich genauer anschauen, mit welchem politischen Auftrag jede Behörde unterwegs ist und wie dieser Auftrag im Tagesgeschehen sowohl unterstützt als auch variiert werden kann. Und man wird prüfen müssen, ob das Infektionsschutzgesetz mit seinen aktuellen Nachträgen die Politik gegenüber der Bürokratie nicht in einer Art falscher Sicherheit gewiegt hat. In diesem Gesetz scheint alles Erforderliche geregelt zu sein: die Arbeit des Robert Koch-Instituts, das Ausrufen einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ durch das Parlament, die Meldepflicht von Krankheiten, die Verordnung von Schutzmaßnahmen sowie der Erlass von Rechtsverordnungen – und der Vollzug der Maßnahmen durch die Länder und selbst die Bundeswehr.

Ein Ausnahmezustand musste nicht ausgerufen werden. Stattdessen wurde ein Krisenstab des Bundesinnen- und des Bundesgesundheitsministeriums eingerichtet, der regelmäßig einen in der Regel nichtöffentlichen Lagebericht vorlegt. Es tagen zahlreiche weitere Krisenstäbe auf Länder- und kommunaler Ebene, und die Landesregierungen und die Kanzlerin treffen sich bei jeder Verschärfung der Lage. Steht nun die Bürokratie der Politik im Wege oder umgekehrt die Politik der Bürokratie?

Max Webers Beschreibung der Bürokratie war noch eindeutig. Bürokratie ersetzt Befindlichkeit durch Sachlichkeit. Womit der große Soziologe noch nicht rechnen musste, ist die Komplexität einer Gesellschaft, in der Sachlichkeit und Befindlichkeit laufend aufeinandertreffen, weil die Sachverhalte ungewiss sind und die Zukunft unbekannt.

Zu viel Bürokratie erschlägt die Rücksicht auf Befindlichkeiten, zu wenig Bürokratie vernachlässigt die Auseinandersetzung mit der Sache. In der aktuellen Situation mangelt es an einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Bürokratie und Politik. Unzureichend ausgestattete Gesundheitsämter, fehlende statistische Erhebungen, unklarer Umgang mit Hygienekonzepten in Alltag, Wirtschaft und Kultur, Kompetenzgerangel zwischen verschiedenen Krisenstäben und nicht zuletzt eine Ministerpräsidentenrunde, die den Austausch zwischen Behördenleitern eher behindert als fördert, stehen einer effektiven Krisenpolitik im Wege.

Ich bezweifle stark, dass man diesen seltsamen Verzicht auf Kompetenz noch als eine intelligente Form des Umgangs mit Nichtwissen beschreiben kann. Ich bezweifle auch, dass die Digitalisierung der Behörden als solche das Problem schon beheben wird.

Dirk Baecker ist Professor für Kulturtheorie an der Universität Witten/Herdecke

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