Leere Meere

Aquafarming Bald stammt die Hälfte aller Fische, Garnelen und Muscheln aus einer Meeresfarm. Doch Viren und Antibiotika gefährden die Bestände

Meereswissenschaftler warnen seit Jahren vor dem Kollaps der Ozeane. Sie notieren Überfischung, Vergiftung und Erschöpfung. Erst im Oktober stimmten ihnen endlich auch die Fischereiexperten der Welternährungsorganisation FAO zu. Nach einer Tagung am Humboldtstrom in Puerto Varas, Chile, lancierten diese ein überraschend skeptisches Statement unter dem Titel: Nähert sich der Boom der Fischfarmen seinem Ende? Was sie beunruhigt, reicht von Antibiotika bis Klimawandel. Es sei sogar möglich, dass die Meeresfarmen dauerhaft nicht mehr genug produzieren könnten, um die Welt weiterhin ausreichend mit Fisch zu beliefern. Es sieht so aus, als sei die einstige "blaue Revolution" auf dem Meer verebbt.

Dabei wirtschaften die Aquafarmen an den Küsten ungebrochen erfolgreich. Ihre Erträge steigen noch immer jährlich um sechs Prozent, wenn auch nicht mehr so rasant wie vor Jahren. Kamen in den sechziger Jahren noch kaum sechs Prozent aller Fische und Garnelen aus Unterwasserfarmen, so wurden dort 2006 gut 46 Prozent des gesamten Fangs geerntet. Mittlerweile tummeln sich zwischen Norwegen und Thailand jedes Jahr rund 60 Millionen Tonnen Kabeljau, Barsche, Austern und Krebse in riesigen Netzkäfigen. Und irgendwann in den kommenden Monaten, so ist FAO-Statistiken zu entnehmen, kommt vermutlich genau die Hälfte aller Lachse, Shrimps und Meeresfrüchte auf den Tellern dieser Welt aus einer Aquafarm.

Die Fischfarmen sind nicht zuletzt so mächtig geworden, weil die Fanggründe in den Meeren erschöpft sind. Seit über 20 Jahren stagnieren dort die Erträge. Supertrawler und unbeflaggte "Raubfischer" plünderten die Allgemeingüter der Ozeane in nur einer Generation, nachdem sie ihre Quoten zuvor um das Zehnfache gesteigert hatten. Längst sind nicht mehr nur Mittelmeer, Nordatlantik und Nordpazifik überfischt, sondern fast ausnahmslos alle Regionen zwischen Arktis und Antarktis. Mit gigantischen Schleppnetzen sieben die Schiffe das Wasser. Drei Viertel aller Arten sind bereits als gefährdet gelistet, neben dem Thunfisch, auch Kaiserbarsch, Seehecht, Kabeljau und Riesenhai. Das Magazin Nature berichtete 2003, dass 90 Prozent der Populationen des Schwertfischs und Heilbutts ausgelöscht seien - in nur 50 Jahren.

Wie sehr auch der Klimawandel den Artenreichtum im Meer dezimieren könnte, stellte erst Anfang des Jahres die UN-Umweltorganisation fest. Wenn weltweit Temperaturen und Meeresspiegel steigen, verändern die großen Strömungen ihre Richtung schneller als einzelne Arten ihnen dabei folgen können. In mindestens drei Vierteln aller Fanggründe drohen die Nahrungsketten zu reißen, was ganze Bestände restlos und unwiederbringlich zum Verschwinden brächte. Schon heute gelten zwischen zehn und 50 Prozent aller Arten im Meer als verloren, wie das Magazin Science 2005 darstellte. Als unbedingt schützenswert nennt es fünf subtropische Hot Spots: jeweils einen an der Ostküste Floridas, im Süden von Hawaii, in der Nähe des Great Barrier Reefs, bei Sri Lanka und im Norden der Osterinsel. Wenn es nicht gelinge, die Vielfalt an diesen Orten zu bewahren, sei der Fischreichtum für immer verloren. Immerhin beschloss die UN im Mai in Bonn, ein globales Netzwerk von Meeresschutzgebieten einzurichten.

Rettung der Fischbestände in den Ozeanen erwartet man sich von den Meeresfarmen. Schließlich scheint die Produktion in den Mastanlagen planbarer und effizienter zu sein als der aufwändige Fischfang in der einstmals blauen Wildnis der Ozeane. Möglicherweise lassen sich zudem nun leichter Moratorien für bedrohte Arten im Meer durchsetzen. Schließlich kommen teuere Edelfische aus umzäunten Becken auf den Markt. Und ist es nicht ergiebiger, eine Farm zu versorgen, als in erschöpften Gründen zu fischen? Lässt sich mit den Farmen nicht sogar der ungeheure Schiffsverkehr auf den Meeren eindämmen? Zumindest eine Hoffnung scheint berechtigt: In Aquafarmen fällt weniger Beifang an als bei der Hochseefischerei.

Trotzdem führte die "blaue Revolution" in der Fischwirtschaft bereits zu ähnlichen ökologischen Katastrophen wie zuvor die "grüne Revolution" in der Landwirtschaft: Die Plaette reicht von Monokulturen bis Überdüngung. In Südostasien werden beispielsweise für Zuchtbecken noch heute tausende Hektar Mangrovensümpfe gefällt, womit Jungfische ihren Lebensraum und Küsten ihren Schutz verlieren. Züchter in Vietnam und auf den Philippinen setzen derweil so viel Antibiotika in ihren Farmen ein, dass sich bereits Bakterien dagegen resistent zeigen. Drei von vier Menschen in Sri Lanka, die nahe von Shrimp-Farmen leben, gelangen nicht mehr an frisches Wasser. In Norwegen und anderswo reißen immer wieder Tausende von Lachsen aus den Farmen aus, verwildern und vermischen sich mit Wildlachsen, was deren genetischen Reichtum gefährdet. Und in Bangladesch werden laut Greenpeace bereits geschätzte 150 Ermordungen mit Streitigkeiten um die Aquakulturen in Verbindung gebracht.

In Südamerika und der Karibik wurden sogar so lange intensivst Shrimps gezüchtet, bis sich Krankheiten in den Gehegen ausbreiteten und riesige Populationen kollabierten. Auf die Shrimp-Züchter folgten die Lachs-Farmer: Mittlerweile siedeln allein am Humboldtstrom in Chile so viele, dass das Land zum global zweitgrößten Produzenten aufgestiegen ist. Unter den Gehegen der Farmen türmen sich bereits Berge von Kot und Futterabfällen, aus denen Schadstoffe quellen, während die Lachse darüber in den viel zu eng besetzten Anlagen "gestresst" sind und Krankheiten anheimfallen. Zwei Mal am Tag werden sie mit Medikamenten und Stärkemitteln gepäppelt. Laut New York Times verabreichen chilenische Farmer ihren Fischen noch immer 500 Mal mehr Chemie als es ihre Kollegen in Norwegen tun. In diesen Tagen widerfährt den Lachsfarmen am Humboldtstrom möglicherweise, woran zuvor die Shrimp-Kulturen zugrunde gingen: Ein Virus breitet sich ungehemmt aus und tötet die Meerestiere tonnenweise.

Wie schwierig sich Viren und Parasiten überhaupt wieder eindämmen und kontrollieren lassen, zeigt ein noch heute akutes Beispiel aus Norwegen. 1975 starben Schwärme von Wildlachsen im Norden des Landes und zeitgleich Zuchtlachse in zwei Gehegen nahe der Stadt Sundalsora. Sie fielen dem Parasiten Gyrodactylus salaris zum Opfer. "In 30 Jahren Forschung haben wir erstaunliche Methoden gegen den Parasiten entdeckt, aber alle haben ethische, ökologische oder wirtschaftliche Nebenwirkungen," schreibt Kurt Buchmann, Professor für Aquapathologie an der Universität Kopenhagen, in der aktuellen Insight-Ausgabe desInternational Council for the Exploration of the Sea.

Das größte Manko der Fischfarmen sehen Umweltschützer im Futter: So werden für ein Kilogramm europäischen Lachs vier Kilogramm Wildfische wie etwa Sardellen vor den Küsten Perus gefangen, zu Mehl verarbeitet oder Pellets gepresst, um in Norwegen verfüttert zu werden. Mittlerweile versuchen die Fischbauern durchaus erfolgreich den Gehalt an Fischmehl und -öl im Futter durch pflanzliche Stoffe zu ersetzen, was steigende Preise für Fischöl und -mehl befördert. Immerhin gilt Norwegen als das erste Land, das sich einer nachhaltigeren Aquakultur öffnet. So überwachen die Behörden, wie viel Antibiotika in die Mastgehege geschüttet wird, was schon zu weniger Einsatz führte. Und Fischbauern achten darauf, nicht zu viele Fische in einer Kultur zu halten, schon um die Qualität zu sichern.

Langsam behaupten sich erste umweltschonende Meeresfarmen. Während im Mekong-Delta Garnelenfarmer auf natürliches Futter wie Kieselalgen und Kleinstkrebse setzen, die sich ihrerseits von den Nährstoffen aus herunterfallenden Blättern ernähren, wird derzeit im Saarland eine riesige ökologische Aquakultur für Meeresfische errichtet: Wo früher eine Kokerei stand, sollen im nächsten Jahr in Mini-Ozeanen - so groß wie Schwimmbäder - die ersten Doraden und Wolfsbarsche aufwachsen.

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