Der Umweltschützer Wladimir Slivyak sticht mit dem Zeigefinger drei unsichtbare Punkte in die Luft und sagt: "Gronau, Münster, Rotterdam". Dann zeichnet er eine weite, imaginäre Schleife: "Nordsee, Skagerrak, Ostsee"; um schließlich erneut in die Luft zu stechen: "Sankt Petersburg". In einem dunklen Moskauer Café unweit des Roten Platzes beschreibt Slivyak, wie Atommüll aus Deutschland nach Russland gelangt. Von Petersburg aus würden nun Züge die Fracht nach Sibirien schaffen, wo sie sich allzu neugierigen Blicken entzieht.
Slivyak leitet mit Ecodefense eine der größten Umweltgruppen des Landes. Vor vier Jahren erfuhr sie, dass westeuropäische Unternehmen wie Cogéma und Urenco ihr abgereichertes Uran in den russischen Osten schaffe
en schaffen, wo dessen Wiederanreicherung wesentlich günstiger ist. Als nuklearer Wertstoff deklariert erreicht es Novouralsk, Angarsk, Seversk und Zelenogorsk in der Weite zwischen Ural und Baikalsee. In Zentrifugen werden dort Uranpartikel von Unbrauchbarem getrennt, die Brennstoffe kommen zurück in den Westen, der Müll bleibt vor Ort - dies ist die offzielle Prozedur."Tatsächlich aber entsteht in Sibirien ein dauerhaftes Endlager", sagt Slivyak, bestellt einen Espresso und fügt hinzu: "unter freiem Himmel." Über die Jahre erarbeiteten sich die Umweltschützer gute Kontakte in die Atomagentur Rosatom. Sie fanden heraus, dass gasförmiges Uranhexafluorid UF6 seit zwölf Jahren eingeschifft wird, bislang rund 24.000 Tonnen. In Regierungsreports suchten sie mit detektivischer Akribie nach Angaben über rostige Fässer, unsichere Überfahrten und miserable Technik. Ein Experte verglich Listen und ist sich sicher, dass zu wenig Brennstoff zurück nach Gronau kommt, teilweise nur zehn Prozent. "So entledigt sich Westeuropa seines Atommülls", sagt Slivyak in dem unterirdischen Café, in dem jedes Wort subversiv klingt.Es sind profitable Geschäfte, denen westliche Energieriesen in Russland nachgehen. Erfolgreich knüpften sie dabei ein dichtes Lobbynetz aus Macht und Interesse. Auf die wohl subtilste Verquickung stieß Slivyak bei einem Deutschlandbesuch. Man demonstierte vor der Zentrale des Konzerns E.ON, der Anteile an der Gronauer Urenco hält. Die Polizei wollte die Demonstration auflösen, weil es gelte, eine Botschaft zu schützen: So hatte sich das russische Honorarkonsulat direkt in der Zentrale eingemietet, geleitet seinerzeit von einem E.ON-Vorständler.Slivyak nennt dies "einen Irrsinn" und gibt sich doch zuversichtlich, die Urantransporte bis 2009 zu stoppen. Dann sind die Verträge zwischen Russland und Urenco neu zu verhandeln. Er wolle, wie öfters schon, seinen Teil zum Ende einer Geschichte beitragen.Es begann mit einer PapiermühleMit dem Niedergang der Sowjetunion beginnt der Aufbruch der Umweltgruppe Ecodefense. "Es war ein heißer Sommer Ende der Achtziger, damals in Kaliningrad, meiner Heimat", sagt Wladimir Slivyak, 35, ein wuchtiger Mann, der schwere Ringe und langes Haar trägt und nun den Blick senkt. Erinnerungen, Nachdenklichkeit für einen Moment, dann ein zweiter, schneller Espresso. "Wir waren libertär, antikommunistisch und so furchtlos wie junge Menschen eben sein können."Für Autonomie und Freiheit kämpften sie, für große Worte und große Versprechen - und gegen "das System", das mit seiner Industrie und den Abgasen die Natur, die Flüsse, die Luft so sehr verpestete. Sie planten Kampagnen zum Schutz der Wälder, halfen Menschen, denen Investoren im großen Privatisierungssog das Land abkaufen wollten und verfassten Flugblätter gegen eine Papiermühle aus Vorkriegstagen - bis ein großes Umweltbündnis entstand. "Tausende gingen auf die Straße." Schließlich legte der Betreiber die Mühle still; ein erster Triumph.Als Gorbatschow Anfang 1991 Militär ins Balitikum schickt, unterstützt Slivyak mit kaum mehr als einem Dutzend Freunden die junge Litauische Grüne Bewegung in ihrem Drang nach Unabhängigkeit. "Jeder soll so leben wie er will", ist seine Lebensmaxime. Panzer fahren durch Litauen - es gibt Tote auf den Straßen, die Menschen sind verängstigt. Die jungen Dissidenten nehmen alles auf Kassette und Video auf, schicken die Bänder zu Freunden nach Leningrad, Moskau, Jekaterinburg bis dort für die Sache der Balten protestiert wird.Atomkraft interessierte ihn nicht vor 1993; sieben Jahre nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl. Erst als Menschen, die in den Trümmern des ukrainischen Kernkraftwerks aufgeräumt hatten, auch nach Kaliningrad zogen, erfuhr er von missgebildeten Kindern und krebskranken Arbeitern. Nach und nach begriff er, welch gewaltige Kraft die Atome freisetzen können. Wieder in Litauen - demonstierte er gegen den Reaktor Ignalina. Es folgten Besetzungen, Plakat-Aktionen sowie Bündnisse bis nach Ungarn, Finnland und ins Münsterland.Den Widerständler plagen keine Zweifel. Geschätzte 30 Mal saß er im Gefängnis, in Moskau, Berlin, Amsterdam - er zuckt die Schultern. 30 Mal, meint er, das sei doch nicht wirklich viel in 15 Jahren! Manchmal, sagt er, fühle er sich wie ein russischer Don Quichotte. So oft schon änderte etwa die Verwaltung in Kaliningrad nach Protesten ihre energiepolitischen Planungen, einmal sei von zwei Atomkraftwerken die Rede, dann wieder von keinem, derzeit sind wieder zwei in Planung.Mittlerweile ist Ecodefense zu einer der führenden russischen Umweltorganisationen aufgestiegen mit Gruppen in Moskau, Kaliningrad, Woronesch, Jekaterinburg und in der Oblast Tscheljabinsk am Südural nahe der Atomanlage von Mayak. Mit seinem Land hat sich Slivyak nie anfreunden können. Wahlen nennt er unnütz und im Präsidenten erblickt er einen Autokraten. Manche sehen in ihm einen Querschläger, andere einen zähen Kämpfer mit Sinn für Symbolik.So robbte er vor vier Jahren mit einer Hand voll Freunden über den Roten Platz, um gegen die Urantransporte zu demonstieren. Man trug weiße Kittel mit dem schwarz-gelben AKW-Symbol und wurde kurz vor der Kreml-Mauer festgenommen. Vor zwei Jahren, zum 20. Jahrestag von Tschernobyl, demonstrierten sie in zwölf russischen Städten, kaum mehr als ein paar Dutzend Verwegene. Zuletzt ließen sie ihre Banner vor der deutschen Botschaft wehen. "Man ließ uns gewähren", sagt er, trinkt einen dritten Espresso und knüllt die leere Zigarettenschachtel zusammen.Friedenstauben auf AsphaltAhaus im westlichen Münsterland Anfang Mai. Wladimir Slivyak trifft im lichten Dorothee-Sölle-Haus Gleichgesinnte im ungleichen Kampf gegen den "Atomstaat", wie man hier sagt. Manche laufen barfuss umher, andere hören strickend den Vorträgen zu; einer trägt ein Lammfell, ein anderer hat Gänseblümchen im Haar - Szenen wie aus Wackersdorfs-Zeiten. Sie sind Schüler, Elektrotechniker, Studienräte, Agrarwissenschaftler, Politikstudenten, Alt-68er, Umweltbewegte. Ihre Namen kleben auf Paketstreifen am Seidenkleid, Baumfällerhemd oder Pulli: Ulla aus Finnland, Cécile aus Frankreich, György aus Ungarn, Olga aus Jekaterinburg; die Bewegung ist kaum weniger vernetzt als die Konzerne.Slivyak trifft hier all jene wieder, mit denen er seit Jahren über Telefon und Internet in sorgfältiger Detailarbeit seine Informationen abgleicht. So entdeckten sie die Route der Urantransporte und Verladeorte, sie stoppten die Zeit, die ein Schiff von Rotterdam bis Petersburg braucht, teilten einander mit, unter welcher Flagge es fährt, wieviel Fracht an Bord sein müsste. Sobald sich in Gronau die Werkstore öffnen, wird die Telefonkette geknüpft. Dann bereiten sie entlang der Strecke ihre Proteste vor.Vorne spricht jetzt Peter Diehl über den weltweiten Kampf gegen die Atomkraft. Diehl ist Rechercheur der Amsterdamer NGO Wise-Uranium-Project und gilt als Nestor der Bewegung. Seinen Vortrag schmückt er mit Tabellen, Formeln und Bildern aus Wildwest-Comics von müden, gekrümmten Goldsuchern. Auch die Uransuche habe ihren Gründungsrausch hinter sich. Hier und dort melde die Industrie vielleicht einen Erfolg wie in Indien und Bulgarien, aber im Großen und Ganzen gebe es nur Protest wie in den USA, Australien, sogar in Nigeria. Als Beweis projiziert er Fotos an die Wand des Gemeindezentrums.Wladimir Slivyak lehnt sich in seinem Stuhl zurück, er kennt Diehl seit Jahren. Und die Zuhörer schweigen und nicken zuweilen. Sie wissen auch von den Geschäften Urencos in Russland, von denen nun eine Referentin der NGO Urgewald berichtet. Nach unabhängigen Schätzungen stiegen die Produktionskosten um das Fünffache, wenn die Energiekonzerne ihren Atommüll in Deutschland lagern müssten. Die Referentin hat ein mächtiges Lobbynetz ausgemacht mit Namen wieGerhard Schröder,Gunda Röstel, Werner Müller. Und ein Walter Hohefelder habe zuerst die Abteilung Reaktorsicherheit im Bundesumweltamt geleitet bevor er in den Aufsichtsrat der Urenco wechselte.Der Konzern sei auf die Transporte angewiesen, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu bleiben, sagte Slivyak im April auch den Aktionären auf der Hauptversammlung von E.ON, die erstaunt waren, einen russischen Umweltschützer auf der Bühne zu sehen. Urenco nütze die poststalinistischen Strukturen in den geschlossenen Atomstädten Sibiriens, um ein dreckiges Geschäft zu betreiben. Sollten die Verträge verlängert werden, dann mobilisiere Ecodefense landesweite Proteste. Die seien in Russland durchaus möglich. Man kann seine Rede im Netz sehen, der Videoclip ziert die Seiten der Atomkritiker wie eine Siegerurkunde.An diesem Maiabend in Ahaus läuft Wladimir Slivyak mit Freunden zum Party-Acker der AKW-Gegner gegenüber dem Brennelemente-Zwischenlager. Von Weitem schon ist ein zorniger, sehr junger Sänger zu hören: "Auge um Auge/ Zahn um Zahn/ Du bist der Herrscher/ Machst Dir alles untertan." Und als die Sonne glühend hinter den grauen Katakomben des Zwischenlagers untergeht, ziehen Jugendliche vor das Werkstor, pusten Seifenblasen in die Luft und malen Friedenstauben auf den Asphalt.
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