Unheimliche Ungeduld

Vor dem Tag X Die Kosovo-Albaner setzen Unabhängigkeit mit Zukunft gleich. Tatsächlich ist eine Zeit neuer Unsicherheiten nicht ausgeschlossen

Geschickt umstöckelt Edita Tahiri die Schlammpfützen und abgebrochenen Bordsteine in Pristina, der Hauptstadt der Provinz Kosovo - dreckige Schuhe mag sie sich an diesem Dezemberabend nicht leisten. Auf sie wartet im albanischen Restaurant in der UCK-Street Hashim Thaci, der designierte Ministerpräsident. Hinter bestickten Gardinen werden sie gleich weiter an einem neuen Staat auf dem Balkan schmieden: an der Republik Kosovo, einem zweiten Albanien. Spätestens im April 2008, möglichst früher, will Thaci den Staat ausgerufen haben. Vielleicht schon heute Abend.

Während sich Edita Tahiri eilt, sprühen Silvesterraketen ihre Funken in den tristen Himmel, Autos hupen sich durch die Straßen, Jugendliche schwenken Fahnen und böllern. Gerade mussten sich die Bürgermeister in Stichwahlen stellen. Tahiri nimmt den Jubel kaum wahr. Im Kabinett Thaci ist sie als Außenministerin vorgesehen. Die promovierte Politologin ist eine sehr westliche Frau, die offenes Haar und ein schwarzes Kostüm trägt. Sie studierte in Harvard und an der John Hopkins Universität, raucht Marlboro und sieht in Präsident Bush den besten Freund der Kosovo-Albaner.

Aber mit den Serben, meint sie, während sie zwischen schmutzigen Autos ihren Weg sucht, nein, mit denen könne sie nicht länger in einem Land leben. Resolut spielt sie mit Worten, die Gefühle wecken - Genozid wirft sie Serbien vor; dass der Den Haager Gerichtshof aber Belgrad nicht des Völkermordes, sondern "nur" der ethnischen Säuberungen für schuldig gesprochen hat, ficht sie wenig an. Dies ist nicht die Zeit der feinen Differenzierungen.

Sie ist nun Politikerin und pflegt Umgang mit einem Mann, der Politik nicht nur mit Wörtern betrieb. Nachrichtendienste sind sich sicher, dass Thaci einst den Guerilla-Kampf für ein nicht-serbisches Kosovo mit Drogen-und Waffenhandel finanziert hat. Tahiri will dazu jetzt nichts sagen. Nur soviel: Thaci ist gewählt und Den Haag sucht nicht nach ihm. Alle Kriegsverbrechen, die ihm angelastet würden, habe Serbien erfunden. Ein Lächeln noch, ein letzter Blick.

Schauplatz des Weltkonfliktes auf dem Balkan ist eine karge, nahezu baumlose Landschaft, eingerahmt von den Bergen Serbiens, Montenegros, Albaniens und Mazedoniens - kaum größer als ein Königreich in einem Märchen der Gebrüder Grimm. Und über das Land sind wie Konfetti lauter neue Häuser, drei, vier Stockwerke hoch, verstreut. Geziegelte Mauern grenzen die Bauten von der Außenwelt ab und schaffen den Familien eine sichere Heimstätte. Es heißt, dass Mauern in dieser Gegend die Menschen immer schon besser schützen, als es der Staat je vermochte.

Entlang der Provinzstraßen breitet sich eine vergleichsweise arme Region Europas aus: stillgelegte Minen; Schrottplätze voller Karossen. In der Ferne dampft das einzige Stromkraftwerk, das zu oft ausfällt. Selbst Äcker werden nur selten bestellt: Tomaten kommen massenweise aus der Türkei, Knoblauch aus China. Nur jeder Dritte im Kosovo soll einer regulären Arbeit nachgehen und jeder Zweite jünger als 25 sein. Verlässliche Statistiken gibt es aber so wenig wie eine sichere Grundrente, einen soliden Staatshaushalt, einen Bebauungsplan oder eine öffentliche Müllentsorgung.

"Willkommen im Kosovo, dem Land ohne Gesetze", spottet ein Portier mit feinem Wiener Dialekt. Irgendwie werde Amerika und die Unabhängigkeit helfen, tröstet er sich. Amerika, das Glück, die Hoffnung, der Schutzpatron der Kosovo-Albaner! An Straßenständen liegt die Vita von Henry Kissinger aus, daneben stapeln sich US-Navy-Mützen, in Hotels verkaufen Kinder in selbstgebastelten Bauchläden Camel und Philip Morris und auf dem Clinton-Boulevard gehts zum International Airport - vorbei an Häusern ohne Nummern.

Auch an Hashim Thaci erinnert bereits eine Straße: die UCK-Street, benannt nach der einst von ihm geführten Guerilla-Formation. In dieser Straße befindet sich im verspiegelten Gebäude der Thaci Partei PDK auch das Büro von Tahiri, obwohl sie eine unabhängige Liste anführt und als gemäßigt gilt. Man rückt in diesen Tagen, so scheint es, zusammen. Früher stritt sie noch für den friedfertigen Dichterpräsidenten Ibrahim Rugova. Als seine außenpolitische Beraterin reiste sie für die Provinz nach Washington, Brüssel und Moskau. Jetzt ist Rugova tot und es geht nun um das große Ganze eines eigenen Staates - mit Flagge, Pässen und internationaler Vorwahlnummer.

"Dieses Land gehört uns", sagt ein Mönch im serbischen Kloster von Gracanica, ein paar Kilometer außerhalb von Pristina, einer Enklave, in der jeder weiß, in welchem Haus ein Albaner und in welchem ein Serbe lebt. Von alten Bruchsteinmauern umgeben, mit Panzerdraht bewehrt und von schwedischen Soldaten bewacht, trotzt es der Welt ringsherum. Die Mönche misstrauen ihrer Umgebung. Am 17. April 2004 sollte ihr Kloster fast geschleift werden, als aufgebrachte Albaner zum Sturm ansetzten und Gläubige wie Mönche zwangen, es mit Mistgabeln zu verteidigen.

An jenem Tag brannten im Kosovo die serbisch-orthodoxen Abteien lichterloh. Die Mönche von Gracanica können noch immer penibel aufzählen, welche Gebäude von albanischen Extremisten zerstört wurden, obwohl die internationalen Truppen der KFOR bereits die Region kontrollierten. Die ältesten Sakralbauten stammten aus dem 14. Jahrhundert. Sie wurden errichtet gut zweihundert Jahre bevor Martin Luther 1517 seine 95 Thesen zur Reformation formulierte. In Gebieten, in denen Deutsche patroullierten, vergingen sich Albaner im Sommer 1999 an 17 serbischen Kultstätten.

Auch das Kloster von Gracanica wurde damals demoliert. Mittlerweile verdeckt Betonputz leidlich die Kriegsspuren im Inneren des Monasteriums. Auf ein Marienbild legen Gläubige serbische Dinar-Scheine, Weihrauch dampft, Wachskerzen flackern im Dunkel. Ein irischer Soldat leuchtet seinen Kollegen mit einer Taschenlampe die Wandbilder der Bibelgeschichte aus, hier glänzt die Kreuzigung matt auf kühlen Mauern, dort erstrahlt die Auferstehung. Rückwärts gehend verlassen sie die Kultstätte, überschreiten die Schwelle und bekreuzigen sich auf der Uniform.

Das Kloster ist gut geschützt. Zwei schwedische Soldaten stehen mit schwerem Gewehr vor dem Eingang. "Falls etwas passiert, holen wir in kürzester Zeit bis zu 140 Soldaten aus der Kaserne", sagt Major Hermansson. Derzeit sei alles ruhig. Nur Touristen, Journalisten und Militärs kämen vorbei und gleich auch der General. Unruhen seien nicht zu befürchten, wenn die Unabhängigkeit erklärt werde. Es klingt, als wolle die KFOR nicht eingreifen, wenn Thaci einen neuen Staat proklamiert, obwohl dies die Resolution 1244 der Vereinten Nationen nahe legen würde.

"In einem Kosovo-Staat können Serben und Albaner nicht zusammen leben", meint Ivana Spasic, im Caffe la Revolucion in Belgrad, in dem Fotos von Che Guevara und Fidel Castro hängen und wo der Cappucino so schmeckt wie in Budapest: cremig und nicht so pulvrig wie in der Provinz. Sie ist eine junge Frau und so elegant wie zurückhaltend. Für die OSZE arbeitete sie zwei Jahre lang in Mitrovica im Norden des Kosovo. Es sei eine gute Zeit gewesen, aber es gäbe dort mehr zu tun, als zu bewegen.

Draußen schmückt sich die Kapitale derweil weihnachtlich, Lichterketten werden um die Bäume gespannt, Geschenke besorgt. Buchläden bieten viel Belletristik an, aber nur wenig Literatur über den Kosovo - und wenn, dann von amerikanischen oder britischen Autoren. Nachmittags flanieren auf der Burganlage oberhalb der Donau die Großväter mit ihren Enkeln und zeigen ihnen, wo vor Hunderten von Jahren die Türken geschlagen wurden. Abends treffen sich die Verliebten und beobachten, wie es den dunklen Strom zum Schwarzen Meer treibt.

Die Menschen hier sind zu müde, um immer über das Thema Kosovo zu sprechen. Jeder hat zwar eine Geschichte zu erzählen, aber viele stimmen durchaus mit Ivana Spasic überein. Sie schlägt vor, den Kosovo zu teilen: Der albanisch dominierte Süden solle unabhängig werden, der Norden, wo vor allem Serben leben, müsse bei Belgrad bleiben. Würde ein serbischer Politiker einen solchen Vorschlag äußern, meint sie, wäre es ein ungemeiner Affront für die politische Klasse. "Auf uns lastet die Geschichte." Niemand könne vergessen, und es gäre sicher weiter.

Nirgends ist der Konflikt im Kosovo so unheimlich wie in der Stadt Mitrovica und ihrer Umgebung: Getrennt von einem Fluss leben im Norden die Serben, im Süden die Albaner, im Norden gilt der Dinar, im Süden der Euro, im Norden bietet Telekom Srbija ihren Service an, im Süden gelten europäische Tarife - einzig die Friedhöfe liegen spiegelverkehrt im Stadtteil der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe. Die Gräber wirken wie Mahnmale einer vergessenen, einer friedlicheren Zeit.

Zwischen Nord und Süd spannt sich eine Brücke, die jedoch nicht mehr viel verbindet und fast nur von Internationalen genutzt wird. Die einzigen, die immer hier lebten und die sich relativ frei bewegen, sind Bosniaken. Doch auch sie wurden schon verfolgt und ihre Häuser im Stadtteil Bosnia Mahala sind noch im Wiederaufbau begriffen. Kein Taxifahrer quert die Brücke, um Fahrgäste vom Hotel abzuholen. Sie würden von "den Anderen" erkannt: am Nummernschild, am Aussehen, am Namen. Fahrgäste müssen zur Brücke kommen. Im Schutz der KFOR wird das Gepäck verladen.

Ramadhan ist einer von gut einem Dutzend Albanern, die im Norden leben - direkt neben der Brücke, er hofft auf die Unabhängigkeit, aber lieber hätte er wieder Asyl in Lüdenscheid. Im Krieg brannten Serben sein Haus nieder, oben auf dem Berg, seither war er nicht mehr dort, die internationalen Soldaten könnten nicht für seine Sicherheit garantieren. Er ist Grenzgänger aus Not, den Blick hält er zumeist gesenkt.

Da die Brücke immer wieder gestürmt wurde, zuletzt im März 2004 von Albanern, patroullieren schon lange nicht mehr nur KFOR sondern auch unscheinbare, einheimische Späher: Im Süden beäugen Albaner den Übergang und verlangen zuweilen den Pass, im Norden wird er von Serben beobachtet, die sich an einen Kiosk lehnen und Sonnenblumenkerne kauen. Tag und Nacht, unauffällig und unterstützt von den eigenen Leuten. Die wenigen Serben, die im Süden arbeiten, werden von ihren albanischen Kollegen im Auto an der Brücke abgeholt und später dort wieder abgeliefert. An ein gemeinsames Ausgehen denkt niemand.

Abends dämmert die Brücke verlassen im blauen Neonlicht. Die Soldaten der Vereinten Nationen hocken gelangweilt in ihren schweren, weißen Jeeps. Und französische KFOR-Männer speisen im nahen Restaurant Number One, das Gewehr geschultert. Direkt nebenan in der Bar treffen sich junge Serben, flirten, trinken Heineken und hören die Musik von Rammstein. Ein Refugium in Tuchfühlung zum Niemandsland.

Würde draußen geschossen, bekäme man nicht viel mit. Solange es aber Gerüchte gebe, beschwichtigt jeder, sei alles in Ordnung. Gefährlich werde es erst, wenn das Schweigen beginne. Im Augenblick kursiert nur Gerede: Albaner würden durch die Wälder streifen und Serben von Norden her einsickerten, um ein unabhängiges Kosovo zu bekriegen.

In der Printausgabe Freitag 50/2007 erschien diese Reportage in gekürzter Version.

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