Mal staunend, mal irritiert, mal kopfschüttelnd hat der Warschauer Reporter Mariusz Szczygie das Nachbarland Tschechien bereist: In Gottland erzählt er von Menschen, in deren Leben sich das 20. Jahrhundert spiegelt. Seine literarischen Portäts werfen auch für deutsche Leser einen neuen, überraschenden Blick auf die Ängste, Zwänge und Hoffnungen der Tschechen - und zwischen den Zeilen ist zu ahnen, wie hart die beiden Völker übereinander urteilen.
Szczygies Reportagen verweisen auf allzu Menschliches wie Zorn, Verrat und Eitelkeit. Sie stehen auch damit in der literarisch-journalistischen Tradition der Essayistin Hanna Krall und des Weltreporters Ryszard Kapus´cin´ski. In der Gazeta Wyborcza begründeten
irritiert, mal kopfschüttelnd hat der Warschauer Reporter Mariusz Szczygie das Nachbarland Tschechien bereist: In Gottland erzählt er von Menschen, in deren Leben sich das 20. Jahrhundert spiegelt. Seine literarischen Portäts werfen auch für deutsche Leser einen neuen, überraschenden Blick auf die Ängste, Zwänge und Hoffnungen der Tschechen - und zwischen den Zeilen ist zu ahnen, wie hart die beiden Völker übereinander urteilen.Szczygies Reportagen verweisen auf allzu Menschliches wie Zorn, Verrat und Eitelkeit. Sie stehen auch damit in der literarisch-journalistischen Tradition der Essayistin Hanna Krall und des Weltreporters Ryszard Kapus´cin´ski. In der Gazeta Wyborcza begrXX-replace-me-XXX252;ndeten sie eine Schule der literarischen Reportage, die schlichte Tatsachen kunstvoll stilisiert. Seit 2003 leitet Szczygie nun das riesige Reportageressort des Blattes. Von Krall und Kapus´cin´ski lernte er sein Handwerk. Die überbordende und nicht uneitle Lust am Spiel mit Form und Dramaturgie dürfte ihm eigen sein.Seine Stücke arrangiert er mit dem Blick eines Zeitdiagnostikers und versteht es dabei geschickt, hinter dem Schicksal des Einzelnen die Großgeschichte kulissenhaft aufleuchten zu lassen. Wie in der Erzählung über den imposanten Aufstieg der Schumacher-Dynastie Bat´a im Örtchen Zlín, die zeigt, wie brutal die modernen Arbeitsprozesse das Leben der Handwerker umkrempelten. Übrigens fasste der Kapitalismus in der tschechischen Provinz Tritt, weil der alte Tomá Bat´a 1905 kein Geld mehr für Leder hatte und ihm nur billiges Leinen für die Herstellung von Schuhen blieb. Szczygies Sprache ist in dieser wie in anderen Geschichten schmucklos, was sie nüchtern, zuweilen lakonisch erscheinen lässt.Sprengt Stalin, aber würdevoll!Mit launigem Witz hingegen lästert er über die ungebrochene Verehrung für die "tschechische Nachtigall" Karel Gott. In einem Kommentar nennt er ihn "ein Sakrum in einer desakralisierten Zeit" und meint, dass eine Welt ohne Gott nicht möglich sei. "Deshalb spielt der Sänger im atheistischsten aller Länder eine entsprechende Rolle" - sogar Verrat an Kollegen nach dem Prager Frühling 1968 habe ihm nicht geschadet. So gebe es heute bei Prag das gutbesuchte Museum "Gottland", eine Heimstätte des Opportunismus in einem Land, das sich nicht gern an die Schattenseiten des Sozialismus erinnere, wie der Reporter anmerkt. "Es hat mich immer geärgert", schreibt Szczygie an anderer Stelle, "dass die Tschechen nie eine ordentliche Geschichte von Entstehung und Niedergang des größten Liebesbeweises im kommunistischen Europa geschrieben haben. Offensichtlich müsste man dafür jedoch Archäologe sein." Auf seiner Suche nach Spuren eines gewaltigen Stalin-Denkmals, das einst acht Jahre lang über Prag wachte, nimmt er die Leser mit und erzählt davon, wie er das Gästebuch einer Ausstellung durchblättert und beim früheren Geheimdienst die Einsicht in die Akte über den Baumeister Otokar vec beantragt. Als er in einem Museum ein Foto der Menschen entdeckt, die für das Denkmal Modell gestanden hatten, schaltet er eine Suchanzeige. Doch so sorgfältig er sucht, manches bleibt offen, was glücklicherweise nicht kaschiert wird.Dem Stalin-Denkmal sind gleich zwei Geschichten gewidmet - metaphorische Stücke über Aufstieg und Fall des Sozialimus in dem Land, das lange Moskau verehrte. Szczygie erzählt von den "Opfern": Den Bildhauer Otokar vec treiben stete Verdächtigungen, er verstecke Kritik im Protzbau, in den Selbstmord. Später, in der Zeit der Entstalinisierung, soll der Sprengtechniker Wladimir Krízek es "würdevoll" abreißen - so wie Moskau es wünscht und so, dass es nicht nach Kritik an der UdSSR aussieht; also: "Keine Explosionskörper in Stalins Kopf!" Es ist die diffizilste Aufgabe seines Lebens. Die Angst, sich zu verkalkulieren, fesselt ihn selbst noch, als Szczygie ihn Jahrzehnte später treffen will.Wie ein roter Faden spinnt sich das Thema Angst durch die Reportagen. Sie gilt Szczygie als Treibstoff der tschechischen Mentalität - die Angst vor missgünstigen Nachbarn, dem mächtigen Staat, dem großen, früher geliebten Russland. Über all die Ängste staunt der Reporter durchaus, wuchs er doch ebenfalls in der Zeit des Kalten Krieges auf. Allerdings lebte er als Pole, wie Martin Pollack es im Nachwort treffend bemerkt, jahrzehntelang "Rücken an Rücken" mit den Tschechen. So gesehen sind seine Stücke klassische Reiseberichte, mit Neugier erlebt und so engagiert wie sachlich erzählt.Als ideologisches Kampfmittel taugte die Reportage nie. Ihr haftet das Subversive an. In Polen wurde sie von Krall und Kapus´cin´ski begründet. "Sie lehrten uns, dass eine gute Reportage wie ein Roman funktioniert", sagte Szczygie einmal. Ihre Stücke über Despoten in Äthiopien oder das Schicksal eines polnischen Lokführers zu Zeiten des Kriegsrechts lasen sich wie Parabeln auf die Mechanismen der Macht. Die Diktatur Jaruzelskis kritisierten sie zwischen den Zeilen. Kein Wunder, dass der Dissident Adam Michnik ihnen im Solidarnosc-Blatt Gazeta Wyborcza den besten Platz freihielt. Und mit den Jahren entstand dort eine eigene Art des Berichtens.Dem Roma-König ins Maul spuckenDer Band Von Minsk nach Manhattan spricht sogar von einer polnischen Schule der Reportage, die in der Gazeta Wyborcza entstanden sei. 30 Reporter schreiben hier, über 300 Stücke werden jährlich gedruckt, einige sind so lang, dass sie hierzulande nur in Magazinen erscheinen würden. Was sie verbinden, sind weniger stilistische oder formale Konventionen. Manche sind erstaunlich unaufgeregt in Form, Stil und Sprache, andere reichlich unbekümmert. Erzählt wird von Tragödien polnischer Wanderarbeiter in New York, von korrupten Bestattern in ódz, von der Suche nach dem Taufeintrag des Dichters Adam Mickiewicz.Geradezu grandios liest sich Lidia Ostaowskas Reportage über den Geschäftsmann Limalo, der sich eines Tages aufmacht, um in Transsilvanien nach seiner Roma-Herkunft zu suchen und der sich nichts sehnlicher wünscht, als Ion Cioaba, dem König aller Zigeuner, so richtig ins Maul zu spucken: Komposition, Sprache und Tonalität verzaubern - und trotzdem genügt sie dem journalistischen Anspruch auf Wirklichkeit. So löst sich in ihr auf, was der Literaturtheoretiker Georg Lukács für unvereinbar hielt: dass dokumentarisch reportierende Schreibweisen und literarisch gestaltende zugleich bestehen können.Manche Reportagen des Bandes wollen an Tabus rühren, was verlockend, aber auch wagemutig ist, wie der mitfühlende Beitrag über die "Mordbrenner" der Ukrainischen Aufständischen Armee, denen eine Gemeinde ein Kriegergrab verweigert. Aber reicht nicht eine gewöhnliche Bestattung? Wozu ein militärischer Fanfarenstoß auf dem Friedhof? Warum die ungeschminkte Parteinahme des Reporters?Im Ganzen präsentiert der Band eine Gesellschaft, die nicht vergessen kann und sich nicht erinnern will. Alte Konflikte schwelen, neue entzünden sich, wenn auch bislang nur im Alltäglichen. Wohl keiner anderen journalistischen Form gelänge es, sie aufzuspüren. Da ist es gut, wenn sich die Reporter ihr Gespür für Ungerechtigkeit und Solidarität bewahren. Ihre Reportagen schließen daher auch nicht mit einer kalauernden Pointe ab, sondern öffnen den Blick lieber mit wehmütigen oder warnenden Gedanken.Kapus´cin´skis Spuren in ÖsterreichDer frühere Spiegel-Korrespondent und Kapus´cin´ski-Übersetzer Martin Pollack hat ebenfalls einen Sammelband veröffentlicht: Warum wurden die Stanisaws erschossen? Die Geschichten spüren den Verwerfungslinien des Nationalsozialismus und des Kommunismus in Mitteleuropa nach. Während der Autor den Kommunismus als "interessierter, manchmal auch involvierter Zaungast" beobachtete, lernte er den Nationalismus als Kind kennen: In seiner Familie waren "eingefleischte Nationalsozialisten, die ihre Überzeugungen nie verleugneten und schon gar nicht aufgaben". Dies schärfte sein Sensorium für derartige Umtriebe.Es sind Geschichten, in denen der Autor sehr engagiert erzählt und dabei zurückhaltend urteilt: So lesen sich manche Stellen in Jäger und Gejagter über den SS-Obersturmbandführer Rolf-Heinz Höppner wie persönliche Randnotizen: "Ich betrachte ihn, wie er so selbstsicher dasitzt. So würde heute vielleicht auch mein Vater aussehen, wenn er noch lebte, denke ich, ihre Lebensläufe waren ähnlich." Die Offenheit ist mutig - und glaubhaft, da die Distanz bleibt.Pollack berichtet ebenso von Schwulen in Ljubliana, vom letzten Juden in Borschtschiv wie von Titos verstoßenen Enkeln, und er gibt die neuesten Nachrichten aus der bulgarischen Provinz weiter. Ein großer Teil der Reportagen wurde bereits vor Jahren abgedruckt in Zeitschriften wie TransAtlantik oder Literatur und Kritik. Veraltet sind sie deswegen nicht. Was sie auszeichnet, ist weniger Tempo oder These, als Ruhe und Reflexion. So verleiht er ihnen ein höheres Maß an Subjektivität und Suggestivität, an Timbre und Temperament. Mithin lassen sich in den rhapsodisch angelegten Erzählungen des Österreichers die literarischen Spuren Kapus´cin´skis entdecken.Mariusz Szczygie Gottland. Nachwort von Martin Pollack. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, 271 S., 19,80 EURMartin Pollack (Hg.) Von Minsk nach Manhattan. Polnische Reportagen. Zsolnay, Wien 2006, 270 S., 21,50 EURMartin Pollack Warum wurden die Stanisaws erschossen? Zsolnay, Wien 2008, 232 S., 19,90 EUR
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