Am Ende donnern Hunderte pinkfarbener Gummibälle aus der Decke. Sie hüpfen über die Bühne, das sich in ein Schlachtfeld der geplatzten Träume verwandelt hat. Isabelle, Andreas und Tom stehen dazwischen und haben sich nichts mehr zu sagen. Die vergangenen neunzig Minuten sprechen für sich. Eine Atmosphäre gefrorenen Schmerzes ist aufgezogen, die Edgar, der Vierte im Bunde, gerade noch verlassen kann, ehe es die harten Fakten aus dem Himmel regnet.
Die drei Begossenen waren forsch in das moderne Geschäfts- und Privatleben gestartet. Sie haben ihre Wohngemeinschaft zur Firmenzentrale deklariert und sich als Wertpapierberater in die New Economy aufgemacht. Gerade so, wie es die herrschende Börseneuphorie ihren Protagonisten abverlangt. Das Kleinunternehmen mit hohen Finanzbewegungen heißt Bunke 37und frönt revolutionsnostalgisch den Erinnerungen an Tamara Bunke - die Frau an Che Guevaras Seite. Entsprechend klebt am rechten Rand der in die Breite gezogenen Bühne ein Schriftzug: Kuba. Isabelle und Andreas sind dort einst gewesen. Damals, als die beiden ein Paar waren und ihr Herz noch nicht an Umsatzbilanzen hing.
Die verlassene Biografie platzt in diese Zahlenwelt wie der sprichwörtliche Regen aus dem heiteren Himmel - oder wie rosafarbene Kügelchen aus dem Schnürboden. Die vier Darsteller kämpfen gegen die Gespenster des Gestern wie gegen die Geister der Zukunft, die sich in verrätselten Monologfetzen unter die schnittigen Gespräche mischen. Sie haben sich alles abverlangt, um dem Takt der Zeit auf der Spur zu bleiben. Doch die Gespenster wollen nicht sterben. Sie verändern sich nur. Die Flucht nach Vorn endet im Scheitern an der verdrängten Geschichte. Wo alles sicher schien, ist alles außer Kontrolle geraten. Michaela Winterstein (Isabelle) und Christoph Jacobi (Andreas), Ralph Martin (Tom) und Silvio Hildebrandt (Edgar) haben sich und ihre Figuren an die Grenzen des Darstellbaren getrieben. Sie schlagen und quälen sich - im wörtlichen und übertragenen Sinne.
So sind sie in gewisser Weise immer, die Inszenierungen von Jan Jochymski. Und so ist auch die am Dresdner Theater in der Fabrik entstandene jüngste Arbeit Bunke 37. Sie sind Seismographien sozialer und psychischer Erschütterungen. Er zeigt uns mit seinen theatralen Messinstrumenten Menschen, die aus unserer neuen Mitte herauskopiert und mit Überspitzungen zu Stereotypen retuschiert sind. Hoher Wiedererkennungswert kennzeichnet seine Charaktere. Sie sind weder Helden noch Anti-Helden, sondern Mitmenschen im wahrsten Sinne des Wortes. Er blickt uns mit seiner Theaterarbeit geradezu ins Gesicht, indem er vorführt, wo und wie wir in dieser unserer Welt mit-machen. Das schmerzt. Weil er entdeckt, dass wir Hurenkinder sind. "Käuflich in allen Wünschen und Begierden, die in dem Ziel münden, geliebt zu werden." So steht es in Hurenkind von Christine Grän. Der eben erschienene Roman könnte das Handbuch für alle Jochymski-Arbeiten abgeben (obwohl er das Buch der Grazerin nicht kennt). Mehr noch als die Bücher Michel Houellebecqs trifft Grän den von Jochymski anvisierten Ton, obwohl dieser bereits vor dem großen Houellebecq-Fieber die Bücher des Franzosen als Spielanleitung genutzt hat.
Es gibt Leute, die finden Jan Jochymskis Abende platt und oberflächlich. "Und ich kann das verstehen", sagt er. Seine Stücke operieren schließlich mit einer beinahe altmodischen Theatervorstellung: Er zeigt, was er sieht. Daran stören sich alle, die von der Bühne ästhetisch-distanzierte Feinschmeckerware oder heiteres Entertainment erwarten. Solche Erwartungen erfüllt Jochymski nicht. Er will eine Haltung zu unserer Gesellschaft artikulieren, die nur haben kann, wer diese nicht als des Rätsels beste Lösung versteht. Die gibt es wahrscheinlich nicht. Aber es gibt die Möglichkeit, so Jochymski, "dagegen anzuleben". Und dagegen anzuinszenieren. Er tut dies mit den bewährten Mitteln modernen Theaters, mit Slapstick, Live Art und tragischer Komik und ohne jede gekünstelte Rampeneitelkeit.
Daraus entsteht, was seine Handschrift heißen könnte, auch wenn er nicht an einer identifizierbaren Ästhetik bastelt. Stets umkreist er aber deformierte Subjekte und bringt sie im Rhythmus von Variation und Wiederholung auf die Bühne. Wir schauen auf uns Selbstbetrüger, die wir unseren rastlosen Einsamkeiten den Anschein gelingenden Lebens geben - und ständig auf unsere Lächerlichkeit und Absurdität stoßen. Jochymski ist Beobachter und Sammler der hilflosen Gesten. Er sammelt, bis er ein Muster sieht, das ihm die Strukturen für seine Inszenierungen und gebrochenen Charaktere liefert. Für ihn ist das politisches Theater. Jedenfalls dann, wenn man den Begriff nicht als Agitprop (miss)versteht.
Angefangen hat der 32 Jahre alte Leipziger nach seinem Schauspielstudium 1994 am Theaterhaus Jena. Bevor er seit vier Jahren als freischaffender Regisseur unter anderem an den Berliner Sophiensaelen und in Leipzig inszenierte. 1992 bereits gründet er die Gruppe TheaterschaffT und versammelt unter diesem Namen wechselnde Schauspielerensembles, die das Verhalten von Subjekten als Einzelteilchen untersuchen. In Köder vom Sommer 2000 treffen wir sie in einem Budapester Thermalbad, in
Stellungskriege
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