Die Raserei der Verlierer

China Kindergärten und Schulen werden in der Volksrepublik immer häufiger von Amokläufern heimgesucht, die sich für beruflichen Abstieg und soziale Demütigung rächen

Irgendetwas versetzt chinesische Eltern immer in Angst und Schrecken. Viele leben zum Beispiel mit der steten Sorge, dass ihr Kind entführt und an ein zahlungskräftiges, aber kinderloses Ehepaar an der Ostküste verkauft werden könnte. Es gab gefährliche ansteckende Krankheiten: Zuerst SARS. Dann die Vogelgrippe, dann die Maul- und Klauenseuche. Schließlich H1N1.

Wer seinen Nachwuchs in den Kindergarten brachte, musste daraufhin jeden Morgen seine Hände unter den strengen Blicken einer dortigen Angestellten mit Desinfek­tionsmittel absprühen. Später wurden die Hände der Kinder auf verdächtige weiße Flecken abgesucht. Es gab Zeiten, da wurde bei den Kindern jeden Morgen am Eingang Fieber gemessen. Außerdem nahmen die Eltern vom Kindergarten Listen mit nach Hause, in die sie auch die abendliche Temperatur des Kindes eintragen sollten. Und die meisten Eltern waren mit all diesen Sicherheitsmaßnahmen einverstanden.

Aber dann, am 23. März 2010, stürzte der seit neun Monaten arbeitslose Arzt Deng Mingsheng in eine Tagesstätte in Nanping (Provinz Fujian), tötete acht Kinder und verletzte fünf schwer. Daraufhin wurden Ausweise eingeführt, die zum Betreten eines Kindergartens und zum Abholen des darauf abgebildeten, in seinem Gruppenraum wartenden Kindes berechtigten. Es wurden Wachmänner eingestellt – in den billigeren Einrichtungen meist ein sich lümmelnder 18-Jähriger in einer grauen Wachschutzuniform, in den teuren meist ein sich für besser haltender junger Chinese mit schlecht sitzendem dunklen Anzug und Krawatte. Oft handelte es sich um junge Männer, denen das „Kind-vom-Land-Stigma“ ins dunkel gebräunte Gesicht geschrieben stand. Ob sie sich im Ernstfall gegen einen weißgesichtigen, energisch auftretenden Mann aus der Stadt durchsetzen würden, durfte bezweifelt werden.

Gleicher Schmerz

Leider halfen „Abholausweise“ und andere Sicherheitsvorkehrungen, in die auch Schulen einbezogen waren, weniger als erhofft. Am 28. April verletzte der seit vier Jahren wegen Krankheit „beurlaubte“ Lehrer Chen Kangbing in Leizhou (Guangdong) 16 Schüler und einen Lehrer. Einen Tag später lief der erwerbslose Xu Yuyuan in Taixing (­Jiangsu) in einer Grundschule Amok und verletzte 29 Kinder. Am 23. April war dem Bauern Wang Yonglai aus Weifang (Shandong) mittgeteilt worden, dass sein vor einem Jahr gebautes und noch nicht abbezahltes Haus „illegal“ sei. Am 29. April unterschrieb er die Einverständniserklärung zum Abriss, um am nächsten Morgen mit einem Hammer in die örtliche Grundschule zu rasen und fünf Schülern teils schwere Verletzung zuzufügen, bevor er sich selbst anzündete. Gleichsam um eine Immobilie ging es bei einem Fall in Nanzheng (Shaanxi), als ein Mann am 12. Mai einen sich in seinem Haus befindlichen Kindergarten stürmte und neben sieben Kindern auch die Leiterin sowie deren Mutter umbrachte.

Es fällt auf, dass bei allen Tätern persönliche Tragik oder soziale Demütigung ein offenbar nicht mehr erträgliches Ausmaß erreicht hatten. Bei allen handelte es sich um beruflich gescheiterte Männer zwischen Mitte 30 und Ende 40. Sie alle wohnten in drittrangigen Städten, die gute Schüler auf dem Weg zu Universität und Karriere oft für immer verlassen. Denen auch alle anderen den Rücken kehren, wenn sich eine Möglichkeit dazu bietet. Für den Lehrer Chen Kangbing, den erwerbslosen Xu Yuyuan und all die anderen gab es in der heutigen chinesischen Gesellschaft keine Hoffnung mehr – nicht auf Arbeit, (deswegen) nicht auf eine Wohnung, und (deswegen) nicht auf eine eigene Familie. Ihre Frustration ist verständlich, aber lässt auf den ersten Blick nicht erklären, warum sie sich an unschuldigen Kinder rächten.

Sind sie so lange gedemütigt worden, dass sie sich nur noch an die Schwächsten der Gesellschaft – die Kinder – herantrauten? Die Verbrechen seien „nur zum Teil“ darauf zurückzuführen, dass sich die Täter ausgegrenzt und geächtet fühlten, meint Hu Lifeng, Professor für Sozialarbeit an der Pekinger Pädagogischen Universität. „Natürlich bleibt es ein Faktor, dass sie in Regierungsgebäude mit einem Anliegen gar nicht erst hereinkommen. Aber das ist es nicht allein. Die Überfälle sind berechnet. Wenn besonders in den Städten viele Eltern nach wie vor nur ein Kind haben, wissen die Täter genau, wie sie am wirkungsvollsten Rache nehmen und Schrecken verbreiten können.“

Goldener Phönix

In eine ähnliche Richtung geht, was der Psychologe Ma Shihong sagt, der vorzugsweise in ärmeren Landkreisen der Provinzen Hebei und Shandong arbeitet. „Warum sollte jemand Kinder angreifen? Wenn wir die offensichtliche Tatsache, dass die sich am wenigsten wehren können, beiseite lassen, bleiben drei tiefer liegende Faktoren. Der erste ist, dass jemand von klein auf ungerecht behandelt wurde und sich dafür schadlos halten will. Der zweite: Jemand ist wegen erfahrener Ungerechtigkeit darauf bedacht, dass andere den gleichen Schmerz erleben wie er selbst. Und der dritte wäre, dass jemand wirklich völlig die Kontrolle über sich verliert, nicht mehr weiß, was er tut, und sich unbewusst gegen Kinder wendet.“ Letzteres hält Ma Shihong freilich für den unwahrscheinlichsten Grund. „Warum sollte jemand ausgerechnet einen Hass auf Kinder entwickeln?“ Allerdings, wenn es wirklich soweit käme, sei anzunehmen, dass sich die meisten Täter die Kinder ganz bewusst als Opfer ausgesucht hätten.

Tatsächlich ist es in der chinesischen Gesellschaft seit jeher ein bekanntes Motiv, aus Rache das Kind des Feindes zu töten. Man braucht nur die ersten Seiten des 2006 erschienenen und inzwischen verbotenen Romans Der Traum meines Großvaters von Yan Lianke zu lesen. Da vergiften mit Aids Infizierte den Sohn des Mannes, der sie zum Blutspenden überredet hat.

Immerhin: Seit Juli gab es Sommerferien, und zunächst keine neuen schlechten Nachrichten. Das blieb so, bis am 4. August die Hongkonger Zeitung Singtao in einem auffallend blutrünstig wirkenden Artikel berichtete, in der Stadt Zibo (Shandong) seien drei messerschwingende Männer in einen Kindergarten eingedrungen. Sie hätten zwei Kinder und drei Kindergärtnerinnen getötet. Einem „kleinen Freund“, so Singtao, der nicht rechtzeitig habe ausweichen können, sei mit einem Hieb der Kopf gespalten worden, einem anderen habe das Gesicht nur noch lose am Kopf gehangen ... Andere Quellen berichten weniger detailliert und sprechen nur von einem Täter sowie drei Toten. Gab es wirklich einen derartigen Überfall?

Auf der Website der betreffenden Kindertagesstätte, genannt Goldener Phönix (zbsychild.172baby.com), rührt der letzte Eintrag vom 31. Juli und zeigt lachende Betreuerinnen, die gerade auf einer „harmonischen Versammlung“ den Finanzbericht und neue Verwaltungsvorschriften diskutieren, für Kader der mittleren Stufe „demokratische Empfehlungen“ – eine Art Ersatz für Wahlen – aussprechen und den „wissenschaftlichen Charakter“ ihrer Erziehung voranbringen.

Sucht man im chinesischen Internet weiter, liest man immer wieder „Entschuldigung, die von Ihnen besuchte Seite existiert nicht“ oder: „Das gewählte Thema existiert nicht“. Oder: „Bitte, blättern Sie eine Seite zurück“. Eine Website weiß gerade noch zu berichten, dass der Täter von Zibo ein Jurist gewesen sei, bevor die Internetverbindung zusammenbricht. Wo alle anderen Sicherheitsmaßnahmen nichts helfen, versucht die Regierung jetzt, auf diese Weise die chinesischen Eltern zu beruhigen.

Dirk Reetlandt ist freier Autor in Peking und beschäftigt sich vor allem mit der chinesischen Sozial- und Innenpolitik

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