1926: Reaktionär Hitler

Zeitgeschichte Auf der „Bamberger Tagung“ kommt es zu einer Machtprobe zwischen dem Nord- und dem Südflügel der NSDAP. Das Ergebnis ist eine Kapitalismus-ergebene Nazi-Partei
Ausgabe 08/2021
Nationalbolschewist Strasser (rechts von A.H.) bleibt nur Schmollen
Nationalbolschewist Strasser (rechts von A.H.) bleibt nur Schmollen

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Im Frühjahr 1925, nach Phasen der Orientierungslosigkeit, schließt sich Joseph Goebbels, später Reichspropagandaminister, unmittelbar nach ihrer Wiedergründung der NSDAP an. Wie bei vielen hochkarätigen NS-Chargen üblich, wird seine ursprüngliche Mitgliedsnummer 8762 später zu 22 korrigiert. Knapp ein Jahr zuvor hat der promovierte Germanist am Gründungskongress der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung Großdeutschlands teilgenommen. Es handelt sich um aktive Nazis, die in Weimar mit dem Ziel zusammenkommen, nach dem NSDAP-Verbot im November 1923 eine Sammlungsbewegung zu formieren. Ein einschneidendes Ereignis in Weimar ist für Goebbels die erste Begegnung mit seinem späteren Mentor Gregor Strasser, beide von ihrem Selbstverständnis her nationale Sozialisten.

Spuren einer frühen ideologischen Prägung lassen sich bis in Goebbels’ Studentenzeit zurückverfolgen. Während des Kapp-Putsches im März 1920 hegt er durchaus Sympathien für eine rote Revolution im Ruhrgebiet. Wie Strasser orientiert er sich an den atheistischen Thesen Oswald Spenglers in dessen Schrift Preußentum und Sozialismus. Doch im Gegensatz zu Goebbels ist Strasser schon ein vergleichsweise altgedienter Parteifunktionär und war beim Hitler-Putsch am 9. November 1923 in München mit der Führung eines SA-Bataillons betraut, das jedoch eine untergeordnete Rolle spielte. Auch deshalb wird er für eine Beteiligung am Umsturzversuch nicht strafrechtlich belangt.

Das Zusammengehen von Strasser und Goebbels trägt erste Früchte mit der „Arbeitsgemeinschaft der nordwestdeutschen Gauleiter der NSDAP“, die sich im September 1925 konstituiert und von beiden Protagonisten des nationalen Sozialismus streng kontrolliert wird. Strasser leitet die AG, Goebbels fungiert als ihr Geschäftsführer. In den Folgemonaten bauen beide ihren Einfluss auf die nordwestdeutschen Parteigaue stetig aus und finden sich zunehmend in einer programmatischen Fundamentalopposition zu Hitler und den süddeutschen Parteigauen wieder, wenngleich Strasser und Goebbels es nicht ausschließen, Hitler noch auf ihre Seite zu ziehen. Eine Hoffnung, die sich bald zerschlagen wird.

Nach einem weiteren AG-Treffen Ende Januar 1925 in Hannover – die dortigen Debatten sickern bis in die Münchner Parteizentrale durch – kommt es schließlich im fränkischen Bamberg zu einer folgenreichen Zäsur. Auf der „Bamberger Führertagung“ am 14. und 15. Februar 1926 setzt Hitler seinen alleinigen Führungsanspruch innerhalb der NSDAP und die rigorose Abkehr von nationalbolschewistischen Bestrebungen durch.

Die oberfränkische Stadt ist dafür kein zufällig gewählter Schauplatz. Franken gilt als Hochburg der aufstrebenden nationalsozialistischen Bewegung, zudem liegt Bamberg verkehrsgünstig inmitten des Deutschen Reichs. Die Anfang Februar 1926 kurzfristig einberufene Tagung ist für Hitler zunächst ein durchaus brisantes Unternehmen, geht es doch um die Ausrichtung der NSDAP auf lange Sicht. Hintergrund ist der sich zuspitzende Machtkonflikt zwischen dem Nordflügel um Strasser und Goebbels sowie dem hitlertreuen Südflügel, dem auch Julius Streicher, Gründer des antisemitischen Hetzblattes Der Stürmer, angehört.

Dabei entzündet sich die offen gestellte Machtfrage besonders an der Fürstenenteignung, bei der es zu klären gilt, was mit dem bisher nur beschlagnahmten Vermögen deutscher Adelshäuser geschehen soll. Werden sie vergesellschaftet oder nicht? Während die relativ autonomen, von Strasser und Goebbels dominierten Parteigaue Norddeutschlands in volkswirtschaftlicher Hinsicht einen nationalbolschewistischen Weg in Anlehnung an die Sowjetunion propagieren und die alte Führungsschicht radikal enteignen wollen, lehnt Hitler einen solchen Kurs und eine gemeinsame Bündnispolitik als „jüdische Mache“ entschieden ab. Dies hätte, insistiert er, „die sofortige politische Bolschewisierung Deutschlands“ zur Folge und sei „als nationaler Selbstmord zu verwerfen“. Im Januar 1926 hatten KPD und SPD im Reichstag ein Volksbegehren zur vollständigen Enteignung der Fürstenhäuser „zum Wohle der Allgemeinheit ohne Entschädigung“ beantragt. Strasser bezog nach dem Grundsatz „Gemeinnutz vor Eigennutz“ klar Stellung, lehnte Abfindungsverträge mit den Betroffenen durchweg ab und plädierte für einen möglichen Volksentscheid.

Wenige Tage vor dem Bamberger Treffen vermerkt Goebbels in seinem Tagebuch: „Hitler lädt ein. Steh und ficht! Es kommt da die Entscheidung.“ Am 13. Februar, dem Vortag der Konferenz, veranstaltet die NSDAP-Ortsgruppe um Lorenz Zahneisen, den später eingesetzten NS-Bürgermeister, einen Empfangsabend für die auswärtigen Teilnehmer im Zentralsaal der Stadt. Bei dieser Gelegenheit wird die Strategie eines siegesgewissen Nordflügels entworfen – es soll anders kommen.

In seiner fast vierstündigen Rede am 14. Februar vor 65 NSDAP-Funktionären im Gasthaus Stöhren beansprucht Hitler unmissverständlich die alleinige und kompromisslose Führung, geht auf die aktuelle außenpolitische Situation (Goebbels dazu im Tagebuch: „Russische Frage: vollkommen daneben“) wie die Kontroverse um die Fürstenabfindung ein. Hitlers Credo lautet: „Für uns gibt es keine Fürsten, nur Deutsche.“ Offenbar lässt er sich damit bereits vom Motiv einer Lebensraumpolitik im Osten, aber ebenso von den verlockenden Finanzierungsquellen deutscher Industriebarone für die NSDAP leiten. Darüber hinaus ist ein Gewinnen der Arbeiterschaft aus Hitlers Sicht stets instrumenteller Natur, ein Mittel zum Zweck.

Die Rede wie das gesamte Bamberger Treffen erweisen sich für Hitler – nicht zuletzt wegen der Schwäche seiner innerparteilichen Gegenspieler – als enorm erfolgreich. Strassers Auftritt bei der Aussprache gerät „zitternd, stockend und ungeschickt“, wie Goebbels, der sich erst gar nicht zu Wort meldet, in seinem Tagebuch protokolliert. Ihn überkommen Wut und Enttäuschung. „Ich bin wie geschlagen. Welch ein Hitler? Ein Reaktionär? Fabelhaft ungeschickt und unsicher.“ Im Völkischen Beobachter hingegen wird im Nachhinein von „völliger Einmütigkeit der Auffassungen“ berichtet. Die Machtfrage gilt als entschieden, die Partei sammelt sich fortan beinahe uneingeschränkt hinter Hitler. Mit der Tagung wird der sozialrevolutionäre Nordflügel um Strasser und Goebbels nicht nur in der konkreten Frage der Fürstenenteignung maßgeblich geschwächt. In Bamberg findet auch eine Richtungsentscheidung in nationalökonomischer Hinsicht statt, sie besteht in einer Ausrichtung am kapitalistischen Prinzip. Zugleich kann Hitler das „Führerprinzip“ exklusiv mit seiner Person verbinden, als geradezu unumstößlich etablieren. Von daher ist die Konferenz vor 95 Jahren auch eine verhängnisvolle Etappe auf dem Weg zum verbrecherischen NS-Führerstaat.

Schon im April 1926 schwenkt Joseph Goebbels trotz fortdauernder innerer Konflikte auf den Hitler-Kurs um: „Ich beuge mich dem größeren, dem politischen Genie.“ Die Goebbels-Strasser-Phalanx ist nachhaltig zerbrochen, Gregor Strasser selbst fristet in der NSDAP fortan das Dasein eines innerparteilichen Querulanten, auch wenn sich das an den ihm zugedachten Funktionen des Reichspropagandaleiters (1926 – 1928) wie Reichsorganisationsleiters (1928 – 1932) nicht unbedingt ablesen lässt. Nach Querfront-Bestrebungen mit Kurt von Schleicher, als Reichskanzler Hitlers direkter Vorgänger, und dem Ausscheiden aus der Parteiführung im Dezember 1932 wird Strasser während des „Röhm-Putsches“ am 30. Juni 1934 verhaftet und noch am gleichen Tag im Gestapo-Hauptquartier in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße erschossen. Zwischenzeitlich hatte auch er sich zur Idee des Privateigentums bekannt.

Dirk Schneider arbeitet als Gewerkschafter in Bamberg. Als studierter Soziologe und Historiker schreibt er gelegentlich zu zeitgeschichtlichen Themen

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