Die Metro ist die unterirdische Lebensader der weißrussischen Kapitale. Fast eine halbe Million Menschen rasen morgens hinein in die Stadt, um sie spätestens am Abend auf die gleiche Weise wieder zu verlassen. Die Züge fahren tagsüber im Drei-Minuten-Takt. "Ohne Metro gibt es in Minsk keine Bewegung, und ohne Bewegung kein Leben", behauptet Andrej, Student an der städtischen Schauspielschule und sportlich-trockener Stadtwanderer.
Einer alten Frau hieve ich zwei kleine, aber erstaunlich schwere Nylonsäcke und einen Koffer in den Waggon. Sie bedankt sich überschwänglich, dabei verrutscht ihr goldbesticktes Kopftuch und zeigt den Ansatz einer kahlen Stirn. Peinlich berührt zieht sie den Stoff sofort wieder zurecht und wendet sich brüsk ihrem Gepäck zu. Sie bleibt mit all ihrer Habseligkeit direkt neben der Wagentür hocken. Einen letzten freien Platz schlägt sie kichernd aus und beschwert sich bei jedem, der an den kommenden Bahnhöfen ein- oder aussteigt und sich an ihren Säcken vorbei zwängt. An der Station Kamarovka-Markt reißt sie alles Gepäck blitzschnell aus dem Zug - dann verlieren wir sie aus den Augen. "Sicher eine der Frauen, die vom Dorf kommen", ist Andrej sicher, "sie wird auf dem Markt Äpfel oder Mohrrüben verkaufen und spät dran sein."
Als wir uns der Rolltreppe der Station Kamarovka nähern, hat sich dort ein stetig anschwellender Menschenpulk gebildet und kann sich kaum auflösen. Mitten im Gewühl keift und poltert die Alte aus der Metro. Einige Rote-Bete-Knollen sind ihr an der Rolltreppe aus einem der Säcke geraten, nun will sie alles einsammeln, aber viele Passanten schieben sie weg oder sich an der Verzweifelten einfach vorbei. Von oben fällt schon die Sonne herunter und saugt sich tief, den ganzen Aufzug entlang, in den Schacht hinein. Unten bremst schrill der nächste Zug und stößt die verbrauchte Luft der Sonne entgegen. Fährt er Sekunden später wieder ab, saugt er frische Luft an - so atmet die Minsker Metro. Auch die Alte hat sich inzwischen von Missgeschick und Verlustangst erholt und fährt ins Licht. "Eine Geschichte, die mit Roter Bete beginnt, endet mit dem Teufel, das ist ein altes weißrussisches Sprichwort", weiß Andrej.
Markt der Weberschiffchen - Herzchen, Kussmund, Wolfgang Petry
Am Ausgang der Station hat man Trottoire mit Steinplatten und Bordsteinen, einen Park mit alten Schwänen, streunende Hunde und wuchtige, kantige Häuserblöcke, aber auch einen Sandplatz, dort stehen lauter kleine, für den Tag improvisierte Stände. Chinesische, armenische, russische, ukrainische Händler schwören, bis sie heiser werden, auf Plastikzeug "Made in Fernost", auf neonverspiegelte Sonnenbrillen mit Herzchen- oder Kussmundgestell, auf künstlichen, knallbunten Blumenkitsch. Massen von CDs mit Britpop, Wolfgang Petry, Janet Jackson, der Kölner Combo BAP und der Moskauer Rockgruppe DDT gibt es auch. Dazu Damenwäsche, schwungvoll über Bergen von Matratzen und Schlafdecken ausgebreitet.
Tschelnokis heißen die Händler, zu deutsch - Weberschiffchen. Wie die Schiffchen der Weber pendeln sie zwischen Hongkong, Wladiwostok, Moskau, Minsk und Kiew hin und her. Die staatliche Marktaufsicht sieht sie nicht gern, weil sie ungebeten ins Land sickern und zollfreie Waren verkaufen - aber sie versorgen das Volk.
Einige Meter weiter beginnt der eigentliche Kamarovka-Markt. Etwa 100 himmelblaue Kioske in Reih und Glied - größtenteils auf den gleichen kuriosen Warenkorb bedacht wie die Weberschiffchen. Allerdings wird hier zusätzlich etwas für das cosmopolitane Mädchen des Post-Sozialismus getan, hinter dem himmelblauen Blech des Basars der kleinen Seligkeit warten grelle Mode-, Familien- und Freizeitmagazine auf die Dame des Ostens.
Die große Markthalle selbst wölbt sich über ihrem Fundament wie eine riesige verdreckte Glasblase, getragen von einem mächtigen Stahlskelett und Galerien an den Längsseiten, die dem Betrachter als Tribüne dienen, will er von oben einen Blick auf die Theken der Händler, auf meterweise Geschlachtetes, Dörr- und Räucherfisch, Kartoffeln, Kohl und Südfrüchte werfen. Mancherorts findet sich - in Gläsern konserviert - auch der Luxus Weißrusslands in Rot und Schwarz. Eine Händlerin hält mir einige Gläser mit den kleinen Glibberkügelchen vor die Nase, dreht sie auf den Kopf und schüttelt kurz und schüttelt wieder. "Viele Händler versetzen ihre Ware mit Öl", erklärt Andrej, "so sparen sie an Kaviar. Durch das Wenden und Schütteln soll der Käufer erkennen, ob Öl hinzugefügt wurde." An dieser Kaviartheke wurde natürlich nicht gepanscht.
Am Ende der Marktgasse stehen Frauen und halten mit der einen Hand bundweise Radieschen und mit der anderen zwei bis drei gerupfte Hühner mit langen hängenden Hälsen in eine bescheidene Höhe. "Dafür sind die extra angereist, mit dem Zug aus der Provinz", flüstert Andrej. "Oft fahren sie 50 Kilometer oder mehr. Das Leben auf dem Land ist teuer geworden. Und das Sterben auch - Sarg, Grab und Begräbnis, alles will bezahlt sein, im voraus". Ich bin irritiert. Kein Witz? Nur die bittere Wahrheit?
"Am besten, man kauft den Frauen etwas ab." Andrej grinst und empfiehlt eine Meerrettich-Knoblauch-Paste, eingefärbt mit Rote Bete." Preis 2.500 Rubel, etwa ein Euro, gehandelt wird nicht. "Handeln kannst du an der Kaviartheke, aber nicht um die Meerrettich-Knoblauch-Rote-Bete-Paste ..." Also 2.500 Rubel, für 600 war ich zwei Tage zuvor im Ballett: Auszüge aus Schwanensee und Carmen, für knapp 25 Cent.
Natascha mit Wohnung - Tiger, Affen, Schlangen, exotische Vögel
Für den Abend haben mich Andrej und seine Mutter Natascha in ihre Zwei-Zimmer-Wohnung eingeladen. An den Wänden hängen Gobelins mit Dschungelmotiven: Tiger, Affen, Schlangen und exotische Vögel tummeln sich afrikanisch froh zwischen Urwaldlianen, Flur und Küche. Die Teppiche sind Wandschmuck, aber auch Schutz gegen die klirrende Kälte im Winter. Klassisch weißrussisch essen wir uns durch den Abend: Sauer eingelegte Eier, Trockenfisch, Borschtsch, Rote-Bete-Salat.
Andrej hat gerade mit seiner Studentenbühne in Minsk und anderen Städten den Hamlet aufgeführt. Dank seiner Begabung erhält er ein Stipendium von etwa fünf Euro pro Monat. "Gewonnen ist damit nichts", sagt er und erzählt von einer Reise nach Paris. "Wunderbar, ein Traum", dort habe er sich sofort an einer Schauspielschule beworben. Warum sollte nicht schon morgen die Zusage eintreffen, auf die er seit Monaten wartet? Natascha hört das nicht gern. "Aber es ist Andrej, der für sich die Entscheidung zwischen Heimat und Hoffnung treffen muss."
Mit 17 hatte sie Oleg, Andrejs Vater, kennen gelernt. "Wirklich ein Charmeur. Als ich ihn traf, wohnte ich noch zuhause. Im Wohnzimmer meiner Eltern wurde jeden Abend das Sofa zum Bett, und ich legte mich schlafen. Dann kam Oleg: Aber nicht in unser Haus und nicht auf dein Sofa, bestimmten die Eltern. Also brauchten wir ein eigenes Zimmer, aber das gab es nicht. Es gab nur Wohnungen, aber die waren eben knapp. Nur wenn man verheiratet oder sozial bedürftig war, schien es nicht aussichtslos. Also heirateten wir. Ich war 18 - Oleg 19. Wir waren neugierig auf uns, wollten ein eigenes Leben führen und bekamen tatsächlich eine kleine Wohnung im Norden von Minsk, in der wir jetzt Rote Bete essen." Sie fährt sich mit der Hand durchs Haar. "Verheiratete haben meist nur eine kurze, schöne Zeit - nach zwei Jahren habe ich die Scheidung eingereicht, Oleg ist seither aus meinem Leben verschwunden. Von der Wohnung aber werde ich mich nie trennen; Wohnungen sind bei uns nicht so leicht zu haben wie Männer", resümiert sie lakonisch. "Das Leben in Minsk findet heute in den Wohnungen statt. Viele bei uns haben sich in ihre Nische zurückgezogen, aus Enttäuschung über die vergangenen Jahre, über die Politik, über die Lethargie. Manchmal glaube ich, wir sind so etwas wie Schattenmenschen geworden."
Pater Igors Kirche - 1.000 Rubel oder ein paar Kartoffeln
"Wird nicht über uns geschrieben, Weißrussland sei eine Bananenrepublik ?" fragt Andrej. "Vielleicht habt ihr Recht, aber für mich sind Bananen schlichtweg zu teuer. Ich kaufe sie nur zum Geburtstag und - nicht zu vergessen - für die Silvesterfeier. Dann wird die Bananenrepublik ausgerufen."
Wir kommen gerade über den nächsten Platz und an den breit gemauerten Pfeilern, den gewölbten Bögen und rissigen Mauern von Pater Igors Kirche vorbei. Ziegelsteine, Geld und Elektronik aus dem Westen haben ihr zu einer zweiten Grundsteinlegung verholfen. Wände werden begradigt, verputzt und frisch gekalkt, und da immer wieder Baumaterial verschwindet oder verloren geht, ist auf dem Kirchhof ein riesiges Depot entstanden, das Pater Igor nachts vor Dieben bewacht. Seine Gottesdienste müssen unter dieser Beanspruchung nicht leiden, er hält sie trotzdem ab. Wegen des Umbaus sind augenblicklich die Sitzbänke aus dem Kirchenschiff entfernt, so dass selbst die Alten stehen müssen. Damit das jeder aushält, hat Pater Igor seine Andachten verkürzt. Und wer zu spät kommt und keinen Stehplatz mehr findet, folgt der Liturgie draußen vor der Kirchentür.
Nach dem Gottesdienst reihen sich die Ärmsten, denen die ständige Inflation das Geld wegfrisst, mit gesenktem Kopf unter dem bestickten Tuch um Almosen bittend, vor der Kirche auf. Wer 500 oder 1.000 weißrussische Rubel gibt oder ein paar Kartoffeln oder eine Handvoll Rote Bete, dem wird flüsternd gedankt, ohne dabei aufzublicken. "Ein Fluch, Bettler gab es früher nicht", sagt Andrej und blickt in die Ferne. Nicht weit von uns schwirren im Wind knittrige Zwanzig- und Fünfzig-Rubelscheine über den Asphalt und werden von vorbeifahrenden Autos aufgewirbelt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.