Brief an die Abgeordneten des Bundestages

Infektionsschutzgesetz Nach dem Gesetzesentwurf zu § 28b Infektionsschutzgesetz sollen nun bei einer 7-Tage-Inzidenz ab 100 automatisch festgelegte Lockdownregeln gelten. Das wäre fatal

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Ihre Freitag-Redaktion

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages,

mit diesem Schreiben möchte ich als Bürger dieses Landes an Sie appellieren, bei der anstehenden Abstimmung über die Änderung des Infektionsschutzgesetzes im Hinblick auf die Einführung eines § 28b Ihre Zustimmung zu verweigern.

Begründung:

1) Die Gesetzesänderung schafft einen starren, mechanischen Automatismus für die Einführung von Lockdowns und fixiert und verstetigt damit die einschneidenden und seit 1949 beispiellosen Einschränkungen unserer Grundrechte. Diese Einschränkungen, die bislang noch klar als absoluter, immer wieder neu zu kalibrierender Ausnahmezustand galten, würden gesetzlich in den Status eines unter festgelegten Umständen automatisch geltenden Zustandes erhoben und damit für den Fall, dass diese Umstände eintreten, als eine Art "alternativer Normalität" eingeführt. Gravierende Grundrechtseinschränkungen als normierten Normalfall beim Eintreten bestimmter äußerer Umstände gesetzlich festzulegen, ist ein beispielloser Tabubruch in der Geschichte der BR Deutschland.

2) Diese Gesetzesänderung fixiert weiterhin die derzeitige mangelhafte Praxis, ein einziges Kriterium als maßgeblich für das Eintreten der vorgesehenen Grundrechtseinschränkungen festzulegen und schließt die Berücksichtigung anderer Kriterien - wie es in der bisher geübten Praxis noch jederzeit möglich wäre - dauerhaft aus.

Die aufgrund der PCR-Tests gewonnene sog. 7-Tage-Inzidenz ist dabei ein denkbar ungeeignetes Mittel, um nunmehr sogar noch als durch die Gesetzesänderung fixiertes einziges Kriterium für derart einschneidende Grundrechtseinschränkungen herangezogen zu werden.

a) PCR-Tests sind ungeeignet, um tatsächlich sicher eine Infektion mit COVID-19 anzuzeigen.

b) Aus der Addition von positiven PCR-Tests gewonnene Werte sind nur von geringer Aussagekraft, wenn nicht die Gesamtzahl der durchgeführten und das Verhältnis positiver zu negativen Tests berücksichtigt werden.

c) Eine so gewonnene 7-Tage-Inzidenz ist damit manipulierbar durch Steigerung oder Reduzierung der durchgeführten PCR-Tests und durch Veränderung bei den gestesteten Personengruppen.

d) Alle anderen Faktoren, die wesentliche Aspekte des Infektionsgeschehens abbilden - und sowohl einzeln als auch zusammengenommen wesentlich aussagekräftiger sind als die aus PCR-Tests gewonnene 7-Tage-Inzidenz - MÜSSEN mit der geplanten Gesetzesänderung für die Frage der Grundrechtseinschränkungen völlig unberücksichtigt bleiben (etwa: Todesfälle; Zahl der schwer Erkrankten / hospitalisierten / intensivmedizinisch betreuten Erkrankten; Verteilung der entsprechend Erkrankten auf bestimmte Bevölkerungsgruppen, nach Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen, sozialem Status u.a.; örtliche Besonderheiten).

Ebenso würde durch die Gesetzesänderung zwingend festgelegt, dass alle anderen Gesichtspunkte (etwa: Auswirkungen auf die Wirtschaft; auf andere Aspekte der Gesundheit; auf die Psychologie; auf Schule, Bildung, das Leben der Kinder und Jugendlichen; auf die Isolation insbesondere der Alten; auf das kulturelle Leben; auf familiäre Verhältnisse) für die Frage der Grundrechtseinschränkungen AUF DAUER unberücksichtigt bleiben MÜSSEN.

3) Die sog. Schwellenwerte von 100 und 200 sind rein politischer Natur und damit völlig willkürlich gewählt. Sie taugen allenfalls für eine einmalige Ausnahmeregelung, nicht aber für eine gesetzliche Verstetigung.

4) Die durch die Gesetzesänderung eingeführte Verstetigung der Kriterien für grundrechteeinschränkende Maßnahmen bedeutet genau das, was nach § 28b Absatz 1 angeblich ausgeschlossen werden soll, nämlich eine "dauerhafte Modellierung des Geschehens". Wenn im Weiteren erklärt wird, dass mit dieser Gesetzesänderung "eine möglichst zeitnahe Rückkehr zu Zuständen mit möglichst wenigen Einschränkungen verfolgt wird", ist das bestenfalls eine reine Absichtserklärung ohne jede Bedeutung, wie sich aus oben 1-3) ergibt.

Das ist umso schwerwiegender, als es völlig unabsehbar ist, wie lange nun damit - OHNE DASS ANDERE FAKTOREN ÜBERHAUPT NOCH BERÜCKSICHTIGT WERDEN DÜRFTEN - ein dann gesetzlich verordneter Lockdown tatsächlich langfristig oder sogar dauerhaft andauern MÜSSTE, mit möglicherweile katastrophalen Folgen, die heute auch noch gar alle nicht absehbar sind.

Mit besten Grüßen

Weitere Hinweise:

Infektionsschutzgesetz § 28a: https://www.gesetze-im-internet.de/ifsg/__28a.html

Gesetzesentwurf zur Einführung von § 28b: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/284/1928444.pdf

Formulierungshilfe der Bundesregierung für die Regierungsfraktionen: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/B/4._BevSchG_Formulierungshilfe.pdf

Kritische Stimmen:

Jens Gnisa, 2016-2019 Vorsitzender des deutschen Richterbundes:

Man sieht mich selten fassungslos. Aber nun ist es so weit. Der Bund schießt deutlich über alle Verhältnismäßigkeitsgrenzen hinaus. Nur auf die Inzidenz abzustellen ist bei derartig drastischen Maßnahmen willkürlich, weil die reine Inzidenz davon abhängt wie viel getestet wird. Dies ist manipulierbar. Ab einer Inzidenz von 100 nächtliche Ausgangssperren zu verhängen, obwohl von Gerichten deren Wirksamkeit angezweifelt wurde, ist eine Nichtachtung der Justiz. Eltern ab einer Inzidenz von 100 zu verbieten ihre Kinder zu treffen entspricht für mich auch nicht dem Bild des Grundgesetzes.
Das ist auch nicht der Brückenlockdown von 2 oder 3 Wochen der diskutiert wird, sondern ein nicht mehr einzufangender Dauerlockdown.
Ich möchte daher alle bitten: schreiben Sie Ihrem Bundestagsabgeordneten und appellieren Sie an ihn, diesem Gesetz in dieser Form nicht zuzustimmen! Nur auf die Inzidenz abzustellen ist untauglich.

Verfassungsrechtler Prof. Dr. Volker Boehme-Neßler: https://www.youtube.com/watch?v=7OONqhave5Y

Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Uwe Volkmann, Goethe-Universität Frankfurt: https://www.youtube.com/watch?v=wVzKGt_eck0

Jörg Zajonc, RTL:

Künftig hat also der Bund das letzte Wort, so der Plan. Entschieden wird nur noch nach Inzidenz. Andere Faktoren bleiben außen vor, weitestgehend, und die Länder dürfen nicht mehr mitreden. Ist das wirklich der richtige Weg? Ich halte das für falsch. Wir brauchen mehr, nicht weniger, mehr Diskussion, mehr Vorschläge, mehr Kompetenz, mehr Faktoren, die entscheiden: R-Wert, Krankenhausbelegung, Positiven-Quote. Wir brauchen ein Streit um den besten Weg, eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Ideen, einen Wettbewerb der Möglichkeiten. Die Menschen haben Angst, sie wollen Sicherheit, das will ich auch. Dafür brauchen wir aber keine zentralen Regeln, wir brauchen bessere. Wir brauchen Vorschriften, die geeignet sind, mit dem Virus zu leben, Vorschriften, die mehr sind als große Symbolpolitik. […] Deutschlands Corona-Politik ist kein Erfolgsmodell und wird es auch nicht durch ein neues Bundesgesetz.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dietrich Klose

Vielfältig interessiert am aktuellen Geschehen, zur Zeit besonders: Ukraine, Russland, Jemen, Rolle der USA, Neoliberalismus, Ausbeutung der 3. Welt

Dietrich Klose

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