Terror in Paris: Humanität ist unteilbar

Terror in Paris: Die Anschläge in Paris sind furchtbar. Ja, „Wir sind eins“ und fühlen mit Paris. Zum Verständnis muss man aber auch die Hintergründe der Anschläge ansehen.

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Hier im Freitag sind schon einige ausgezeichnete Artikel über die Pariser Anschläge erschienen – in Verbindung mit den teilweise sehr zahlreichen Kommentaren finden sich allein hier wohl wesentlich mehr wichtige Gedanken als in dem größten Teil der sog. „Mainstreammedien“. Hier drücke ich meine Bewunderung und Anerkennung für Hans Springstein und Lutz Herden aus und möchte jetzt noch ein paar Gedanken dazu äußern, auch wenn diese sich z. T. schon in den erschienenen Artikeln und Kommentaren finden mögen.

Die Anschläge in Paris: Was wollte ISIS?

129 Tote und etwa 200 Verletzte – eine grauenhafte Bilanz.

Da kann man nichts anderes als einstimmen in „Nous sommes unis“, “Wir sind eins“, trauern um die Opfer, mitfühlen mit den Angehörigen. Der Anschlag in Paris habe sich gegen unsere Gesellschaft, unsere Freiheit, unsere Werte gerichtet, so hört und liest man jetzt viel. Diese Ansage fördert die Solidarität damit noch weiter, jetzt auch mit unserer Gesellschaft, unserer Freiheit, unseren Werten. Wer freilich fragt einmal, wie es tatsächlich um diese bestellt ist?

Aber: Das Bekennerschreiben von ISIS gibt genau diese Interpretation für die Pariser Anschläge nur zu einem kleineren Teil her. Ja, ISIS kämpft gegen den Westen, gegen dessen Lebensart, Freiheit und Werte. In der Tat, das hat er ja deutlich erklärt (Und er kämpft in der islamischen Welt genauso rücksichtslos gegen alle, die den Islam anders leben als sie, und das ist der allergrößte Teil des Terrors, den ISIS verübt, das soll man nicht vergessen). Und in der Tat findet man davon im Bekennerschreiben. Da wird dieses Verbrechen religiös motiviert, da wird Paris „Hauptstadt der Abscheulichkeit und der Perversion“, das angegriffene Rockkonzert eine „perverse Feier“ genannt.

Deutlicher sind aber andere Bezüge, eben auf den westlichen (hier besonders französischen) „Krieg gegen den Terror“. Da ist mehrmals von „Kreuzfahrern“ die Rede, der vorletzte Satz lautet: „Frankreich und alle, die diesem Weg folgen, müssen wissen, dass sie die Hauptziele des „Islamischen Staates” bleiben, und dass sie weiter den Geruch des Todes riechen werden, weil sie den Kreuzzug führen, und weil sie es wagten, unseren Propheten zu beleidigen, weil sie es wagten, den Islam in Frankreich zu bekämpfen und Muslime auf dem Boden des Kalifats zu schlagen, mit ihren Flugzeugen.“

Es geht also vor allem darum, die Pariser Anschläge als einen Gegenschlag gegen den von Frankreich in Syrien gegen den IS geführten Krieg dazustellen. (Das Bekennerschreiben im Wortlaut: http://www.bild.de/politik/ausland/terroranschlag/das-isis-bekennerschreiben-im-wortlaut-43402176.bild.html). Es geht um den Krieg in Syrien, der nach Lesart der ISIS nun von Syrien nach Europa getragen wird. Und wer hat den Krieg in Syrien zu verantworten? Auch bei dieser Frage landen wir wieder ganz entscheidend auch beim Westen…

Der "Krieg gegen den Terror": Was hat er gebracht?

Aus den Nachrichten schwappt brausende Kriegsrhetorik in die Wohnung, besonders in Frankreich. Frankreich befinde sich jetzt im Krieg, heißt es da. Wer hinterfragt diese Rhetorik, niemand der Kriegsrhetoriker von heute hat doch einen Krieg tatsächlich am eigenen Leib miterlebt. So furchtbar diese Anschläge auch sind, richtiger Krieg ist anders. Den könnte man sich in Syrien oder im Jemen ansehen.

Der „Krieg gegen den Terror“ soll jetzt als Reaktion auf diese Anschläge intensiviert werden. Wie oft hat man denn in den letzten 14 Jahren, seitdem US-Präsident Bush 2001 den „Krieg gegen den Terror“ ausgerufen hatte, schon erklärt, dass man diesen Krieg intensivieren müsse? Was hat er denn in diesen letzten 14 Jahren gebracht?

2001 hatten die Terroristen – d. h. die wirklich gefährlichen, gegen die dieser Krieg sich richten sollte – einen Rückzugs- und Schutzraum in Afghanistan und Nordwestpakistan. Die in Afghanistan regierenden Taliban waren zwar in jeder Hinsicht fürchterlich, „Terroristen“ im eigentlichen Sinn des Wortes und eine Gefahr für den Westen waren sie nicht. Die Terroristen von Al Qaida saßen in Höhlen im Gebirge, wo sie ziemlich unangreifbar waren.

2015: Die Taliban in Afghanistan sind zu Kämpfern mutiert, für die – zumindest für ihre Aktionen in Afghanistan und Pakistan – mittlerweile die Bezeichnung als „Terroristen“ durchaus zutrifft. Irak wimmelt von Terroristen aller Art, Syrien nicht weniger. Mit ISIS ist eine neue Terrorbewegung mit einer solchen Radikalität, Grausamkeit und Schlagkraft entstanden, gegen die Al Qaida fast wie ein Kirchenchor erscheint. Und genau diese Terrorbewegung beherrscht große Teile von Irak und Syrien wie in einem eigenen Staat (Das ist schon etwas anderes, als sich in Höhlen im Gebirge zu verstecken!). In Libyen sind die ISIS-Terroristen eine militärische und politische Macht geworden. In Nigeria terrorisiert eine große Terrorgruppe, die sich ebenfalls zu ISIS bekennt, große Teile des Landes.

Der "Krieg gegen den Terror": Was hat er gebracht? Der Jemen

Auch im Jemen begann ab 2001 der „Krieg gegen den Terror“. Er wurde mit Drohnenangriffen geführt, der erste 2002. Die USA bekamen dafür vom jemenitischen Regime des Präsidenten Ali Abdullah Saleh die Luftwaffenbasis Al Anad und freie Hand, dafür stützten sie sein Regime. Saleh war einer der größten Kleptokraten – er soll bis zu 32 Milliarden Dollar für sich und seinen Anhang auf die Seite geschafft haben –, es war ein ausgesprochen repressives Regime, und Saleh verstand es, einzelne Stämme und Landesteile gegeneinander auszuspielen.

Als der "arabische Frühling" auf Jemen übergriff und die Unruhe immer weiter zunahm, war klar, dass Saleh gehen musste, wenn das Land nicht in Chaos und Bürgerkrieg versinken sollte. Die USA und die mit ihnen verbündeten Saudis und Golfmonarchien (deren Interessen im Jemen in großen Teilen zusammenfielen) handelten einen politischen Übergang aus, bei dem Saleh ungeschoren abtreten konnte, gleichzeitig aber die amerikanischen und saudischen Interessen gewahrt werden mussten. So wurde Salehs Vizepräsident Hadi zum neuen (Übergangs-)Präsidenten gekürt, in einer „demokratischen“ Wahl, bei der keine Gegenkandidaten zugelassen wurden!

Das war zwar ein Übergang nach den Interessen der USA, die weiter ihren „Krieg gegen den Terror“ von Al-Anad aus führen konnten – Hadi war sogar noch besser als Saleh, da er durch die Art seiner Inthronisation noch abhängiger von den USA und den Golfmonarchien war als sein Vorgänger. Es sollte freilich nicht wundern, dass dieser im Grunde faule Wechsel viele im Jemen nicht zufriedenstellte und das Land rasant weiter auf die politische Krise und schließlich auf die völlige militärische und humanitäre Katastrophe zusteuerte…

Der Jemen wird hier deswegen so hervorgehoben, weil er ein besonders krasses Beispiel für den „Erfolg“ des „Krieges gegen den Terror“ ist. 2001, als die USA dort den „Krieg gegen den Terror“ starteten, waren es sechs (!!!) Al Qaida-Terroristen, deretwegen die USA sich Sorgen machten:

Der Journalist Michael Bronner: I spent time in Yemen in early 2002, shortly after 9/11, when the US was exerting tremendous pressure on Saleh to conform to US counterterrorism policies. The American Ambassador, who was a counterterrorism figure at the State Department before he became ambassador, told me at the time that there were basically maybe six people in the whole country – six people tied to al-Qaeda – that they were very worried about (http://www.warscapes.com/conversations/proxies-aside-closer-look-war-yemen).

2015 gibt es Zehntausende Al Qaida-Kämpfer im Jemen (AQAP; Al Kaida in the Arabian Peninsula, auch für Al Qaida-Verhältnisse eine radikale Gruppe). Al Qaida beherrscht wie eine richtige Regierung große Teile im Südosten des Landes, dabei die viertgrößte Stadt des Jemen, Mukalla, mit 220.000 Einwohnern. In den anderen Bereichen im Süden des Landes, die von den für die Regierung von Exilpräsident kämpfenden Saudis, Golfmonarchien mit ihren Söldnern und jemenitischen Kämpfern „befreit“ worden sind, ist die staatliche Autorität mehr oder minder zusammengebrochen, an ihre Stelle sind dubiose Milizen, in erheblichem Maß auch Al Qaida und nun auch ISIS getreten, die im südlichen Jemen offenbar rasanten Zulauf hat.

Wahrhaftig, das ist ein riesiger „Erfolg“ von 14 Jahren „Krieg gegen den Terror“! In den anderen Ländern sieht es ja genauso aus. Und dieser Krieg hat Millionen Tote, unermessliches Leid und Zerstörung gebracht (überwiegend in diesen Ländern, im Vergleich dazu bei uns sehr wenig, das muss man auch nach den Pariser Anschlägen feststellen), wahrscheinlich schon Billionen Dollar gekostet, die die Menschheit auch für eine positive Entwicklung hätte einsetzen können.

Der "Krieg gegen den Terror" wird verstärkt

Aber der „Krieg gegen den Terror“ wird ja nicht etwa beendet, sondern intensiviert – also immer noch mehr von der offensichtlich falschen und tödlichen Medizin. Dieser Krieg nützt ja auch Vielen: Politiker, die auf diese Weise Stimmung und damit Stimmen machen können, einer immer gigantischere Ausmaße annehmenden Rüstungsindustrie, aber nicht nur dieser, sondern in größtem Umfang auch einer riesigen Sicherheits-Dienstleistungsbranche („Heimatschutzindustrie“) in den USA. Viele Milliarden werden damit verdient, Hundertausende von Arbeitsplätzen hängen daran, im privaten wie im staatlichen Bereich, hier sind dann Behördenleiter aktiv, die (das ist überall so!) sich wichtig, aber bestimmt nicht überflüssig machen wollen. Einen Einblick gibt schon die Leseprobe zu dem jüngst erschienen Buch von James Risen, Krieg um jeden Preis: http://www.westendverlag.de/fileadmin/media/pdfs/Leseproben/Leseprobe_Risen.pdf

Es geht also weiter. Nach dem Bekennerschreiben der ISIS erzeugt Counter-Terror also Terror, der Terror wird nun wieder Counter-Terror erzeugen, dieser Counterterror wird wieder neuen Terror erzeugen… Damit werden bei uns weiter Politiker Kapital aus allem schlagen können, die Rüstungs- wie die „Heimatschutzindustrie“ werden weiter Billionen verdienen können. Warum sollte man daran etwas ändern?

Fatal mag es sein, dass uns die Politiker, Rüstungs- und Heimatschutzfirmen schon derart in den Sumpf des Krieges von Terror und Counterterror hineingeführt haben, dass es daraus keinen Ausweg mehr gibt. Damit hätten sie sich ihre Pfründen zwar auf alle Zeiten gesichert, aber was sollen wir dann tun? Sie haben damit auf jeden Fall Millionen Tote und unermessliche Zerstörung in vielen Ländern des Nahen Ostens (mit-)zuverantworten, vergessen wir das nicht. Wann werden sie zur Verantwortung herangezogen?

"Wir sind eins": Auch mit Hollande, Merkel, Obama, den Saudis?

129 Tote und etwa 200 Verletzte – eine grauenhafte Bilanz. Da kann man nichts anderes als einstimmen in “Wir sind eins“, trauern um die Opfer, mitfühlen mit den Angehörigen.

Einen schalen Beigeschmack bekommt das „Wir sind eins“ aber dann, wenn sich diejenigen hier einreihen wollen, die selbst von anderen Gedanken und Handlungen getragen sind als diejenigen, die um unschuldige Opfer – und Menschen wie sie – trauern. Es sind die Hollandes und Merkels und Obamas und Saudis, die unter den Mitfühlenden und Trauernden, den „Wir sind eins“, nichts zu suchen haben, aber sich natürlich medienwirksam in diese Einheit hineindrängen, wie sie das penetrant etwa auch bei „Wir sind Charlie“ getan haben.

Niemand kann guten Gewissens diejenigen dort dabeihaben wollen, die den sog. „Krieg gegen den Terror“ bisher geführt haben und wie gehabt weiter führen wollen. Ja, es sieht nicht so großartig aus, wenn man sich vor Augen führt, dass die ISIS vor allem deshalb in Paris zugeschlagen hat, weil Frankreich in Syrien mit Luftangriffen gegen die ISIS kämpft, die ISIS, die überhaupt nur deswegen in Syrien und im Irak regiert, weil der Westen einen solchen „Krieg gegen den Terror“ geführt hat, ergänzt noch mit gewaltsamen „Regime Changes“ oder Versuchen dazu, wie in Afghanistan, im Irak, in Libyen und in Syrien.

"Krieg gegen den Terror" und "Regime Change in Syrien": Die Rolle der USA

Ja, es ist frappierend, zu sehen, dass sich „Regime Change“ und „Krieg gegen den Terror“ auch genau widersprechen können und Maßnahmen zum „Regime Change“ zutiefst kontraproduktiv für den „Krieg gegen den Terror“ sind. Aber das nimmt man dann in Kauf, wenn der „Regime Change“ höhere Priorität hat. Das fing schon in den 1980er Jahren an, als die USA ganz gezielt in Afghanistan Islamisten förderten, finanzierten und bewaffneten, um gegen die Sowjets und die von diesen eingesetzte afghanische Regierung zu kämpfen. So stand Osama Bin Laden quasi auf der US-Gehaltsliste. Was daraus wurde, ist bekannt.

Nun könnte man meinen, dass man aus Fehlern lernt und sie nicht immer wiederholt, aber da liegt man falsch. In Syrien haben die Amerikaner genau dasselbe Spiel wiederholt. Im Rahmen der Versuche, in einem „Regime Change“ das Regime von Präsident Assad abzulösen, wurden von den USA und ihren örtlichen Verbündeten in großem Umfang Kämpfer gegen das Regime von Assad gefördert, bewaffnet und sogar trainiert. Kämpfer, die nach außen hin als „gemäßigte Rebellen“ hingestellt wurden, weil etwas Anderes der Öffentlichkeit im Westen nicht zu vermitteln gewesen wäre.

Tatsächlich handelt es sich aber ohne Ausnahme um mehr oder minder in der Wolle gefärbte Islamisten, eine Vielzahl von Gruppierungen, die sich neu bilden, sich auflösen, sich vereinigen, sich spalten, sich untereinander bekämpfen oder verbünden. Da sind „gemäßigte Rebellen“ als ein konstanter verlässlicher Faktor ein Phantom, und es gibt ja konkrete Beispiele dafür, wie von den USA an „gemäßigte Rebellen“ gelieferte Waffen innerhalb nur einer Woche (!) bis zu ISIS durchgereicht waren. Es sind ja zum großen Teil amerikanische Waffen, mit denen ISIS in Syrien und im Irak kämpft.

Ja, das macht sich schlecht vor dem Hintergrund der Anschläge in Paris, aber es ist so. Aber damit noch nicht genug. An die Öffentlichkeit gekommene Dokumente zeigen, dass die USA ISIS wenn auch nicht direkt gefördert, so doch bewusst in ihr Kalkül des „Regime Changes“ gegen das Assad-Regime einbezogen haben. ISIS als nützliche Idioten und Kanonenfutter, die man gewähren lässt, solange sie das Assad-Regime in Schwierigkeiten bringen und bekämpfen.

Es fragt sich, warum der „Regime Change“ gegen Assad nun eine so viel höhere Priorität für die US hat als der Kampf gegen ISIS und islamistischen Terror. Das Regime von Assad Sohn war keineswegs das schlimmste im Nahen Osten, es gab Tendenzen zu Mäßigung und Reformen. Warum also einen „Regime Change“ um jeden Preis, auch den der völligen Zerstörung des Landes und der gewaltigen Erstarkung des ISIS-Terrorismus? Es sind allein geostrategische Interessen der USA. Das Assad-Regime ist ein treuer Verbündeter der Russen und des Iran, zu diesem Thema haben sich schon Andere genug geäußert. Und deswegen ISIS? Ja, deswegen.

Zu den relevantenPapieren hier:

http://yournewswire.com/declassified-documents-obama-ordered-cia-to-train-isis/

http://yournewswire.com/2012-classified-u-s-report-isis-must-rise-to-power/

http://times.altervista.org/us-allies-saw-isis-strategic-asset-syria-dia-documents/

http://www.presstv.ir/Detail/2015/05/24/412595/US-saw-ISIL-isolate-Syria-Intelligence-documents

http://www.hintergrund.de/201506023552/globales/terrorismus/der-westliche-wunsch-nach-einem-islamischen-staat.html

“THE WEST, GULF COUNTRIES, AND TURKEY [WHO] SUPPORT THE [SYRIAN] OPPOSITION… THERE IS THE POSSIBILITY OF ESTABLISHING A DECLARED OR UNDECLARED SALAFIST PRINCIPALITY IN EASTERN SYRIA (HASAKA AND DER ZOR), AND THIS IS EXACTLY WHAT THE SUPPORTING POWERS TO THE OPPOSITION WANT, IN ORDER TO ISOLATE THE SYRIAN REGIME…” (DIA-report von 2012!)

Ja, und damit schließt sich jetzt der Kreis zu den Anschlägen in Paris.

Aus „Spiegel Online“, wo von den Reaktionen auf die Pariser Anschläge berichtet wird:

„Einer der ersten, der sich zu den Terrorattacken in Paris äußerte, war der amerikanische Präsident Barack Obama. "Das ist nicht nur ein Angriff auf die Menschen in Frankreich. Sondern dies ist ein Angriff auf die ganze Menschheit und unsere universellen Werte", sagte er in Washington. Zugleich bot er die Hilfe der USA an, um "die Terroristen vor Gericht zu bringen". Er habe sich mit Frankreichs Präsident François Hollande auf eine Zusammenarbeit geeinigt, um die "Geißel des Terrorismus" zu besiegen.“ (vollständig auf Video weiter unten). Dazu passt Max Liebermanns Ausspruch: „Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte.“

Die Rolle der Saudis

Es gibt für ISIS und Al Qaida freilich noch mehr Terrorpaten. Kaum thematisiert wird in den „Mainstreammedien“ die Rolle von Saudi-Arabien – denn Saudi-Arabien ist ja ein treuer Verbündeter der westlichen Welt, der uns nicht nur billiges Öl liefert, sondern seine eigenen geostrategischen Interessen in der Region sehr geschickt mit denen der Amerikaner und des Westens doch in weiten Teilen zur Deckung bringen konnte. Was man an den gemeinsamen kriegerischen und politischen Aktivitäten in Syrien wie im Jemen sehen kann. Auch im „Antiterrorkampf“ versteht es Saudi-Arabien sehr geschickt, sich dem Westen anzudienen – obwohl Saudi-Arabien einer der ganz großen Paten des internationalen Terrors ist.

Auch das ist nichts Neues – kann aber nicht oft genug gesagt werden. Seit über zwei Jahrhunderten verbreitet Saudi-Arabien in seinem Einflussbereich einen radikalen Islam, den Wahabismus, zurückgehend auf den religiösen Führer Muhammad ibn Abd al-Wahhab, der sich im 18. Jahrhundert mit dem Saudi-Clan verbündete. Jetzt haben die Saudis dafür ihre Ölmilliarden zur Verfügung, der Westen stützt das Saudi-Regime vorbehaltslos und schaut weg.

In der ganzen islamischen Welt werden Bücher mit der saudischen Auslegung des Islam vertrieben; werden Moscheen und Koranschulen gebaut und dort natürlich die saudische Lesart des Islam gelehrt; in Pakistan ist so die Zahl der Koranschulen von einmal 900 auf 23.000 gestiegen. Die Saudis haben sich viele Medien und Fernsehsender in der arabischen Welt zusammengekauft, über die sie nun ihre Lesart des Islam verbreiten können. Und die Millionen Moslems, die als Gastarbeiter aus Ägypten, Pakistan, Bangla Desh, Jemen und anderswo nach Saudi-Arabien kommen, kehren indoktriniert und radikalisiert in ihre Heimatländer zurück und verbreiten dort den wahabitischen Islam weiter.

Einen Islam, der Abweichler von dieser Lehre in der islamischen Welt radikal ablehnt und bekämpft und sie als „Takfir“ quasi vogelfrei zum Ermorden macht. Der Weg von der radikalen Lehre zu Terrorismus und Mord ist damit nur noch ein kleiner Schritt.

Auch in Deutschland witterten die Saudis Morgenluft und wollten 200 Moscheen für die Flüchtlinge bauen lassen; zum Glück ging niemand darauf ein. Wer finanziert die Korane, die Salafisten in Deutschland gratis verteilen? Der große neue grüne Teppich in der Moschee von Sarajewo verkündet groß in einer Aufschrift, dass es sich um ein Geschenk der Saudis handelt.

Religiös-ideologisch unterscheiden sich die Saudis und ISIS kaum. Die Schulbücher, die ISIS in seinem Kalifat hat drucken lassen, entsprechen fast völlig denen in Saudi-Arabien. Der kritische Punkt für die Saudis ist allein, ob diese Gruppierungen die Herrschaft der Saudis anerkennen, und das heißt vor allen Dingen auch, die Herrschaft über die heiligen Stätten des Islam Mekka und Medina. Osama Bin Laden hat die Herrschaft der Saudis in Frage gestellt. Das und allein das war der Casus belli, der Kriegsgrund, für die Saudis gegenüber Al Qaida. Alles, was die Herrschaft der Saudis gefährden könnte, wird mit allen Mitteln rücksichtslos bekämpft.

Und wo die Saudis die Macht haben, ihre Islam-Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen, da tun sie das auch. Dem Wahabismus widersprechen alle Elemente des Islam, die auch die Verehrung von Menschen einschließen, und so richtet sich ihr Hass auch gegen die Orte und Gebäude, wo solche Verehrung stattfindet. Schon als die Saudis um 1800 das erste Mal Mekka und Medina eroberten, haben sie dort viele Heiligengräber und Grabmoscheen zerstört. Seitdem sie dort dauerhaft herrschen (seit 1924) und der saudische König sich mit dem Titel „Hüter der Heiligen Stätten“ schmückt, haben sie dort eine große Zahl weiterer Gebäude aus eben diesen Gründen zerstört. Das angebliche Haus von Mohammeds erster Frau Chadidscha war auch betroffen. Es ist sicher kein Zufall, dass genau an dessen Stelle eine öffentliche Toilette errichtet wurde.

Als die Saudis 2012 vom Herrscher von Bahrain gegen einen Aufstand der schiitischen Bevölkerungsmehrheit zu Hilfe gerufen wurden, zerstörten sie (nicht durch Kampfhandlungen, sondern mit Bulldozern) anschließend dort über 40 schiitische Moscheen. Ja, das Zerstören von Gebäuden und Denkmälern, weswegen uns Al Qaida und ISIS noch weiter verabscheuungswürdig scheinen (Man denke an die Bamiyan-Buddhas in Afghanistan oder Palmyra in Syrien und Hatra und Kunstschätze im Museum von Mossul im Irak, um nur die prominentesten zu nennen), das haben Al Qaida und ISIS von ihren geistigen Vätern in Saudi-Arabien gelernt.

Und Barack Obama spricht von der „langwährenden Freundschaft zwischen den Vereinigten Staaten und Saudi-Arabien“. Das braucht hier nicht näher ausgeführt zu werden. Ja, und damit schließt sich jetzt noch einmal der Kreis zu den Anschlägen in Paris.

Von Max Liebermanns Kotzen mussten wir uns auch noch etwas für die Saudis aufheben. Der saudische Außenminister Abdel al-Jubair schwadronierte nach den Pariser Anschlägen von “Verstößen gegen jegliche Ethik, Moral und Religion”.

Paris und Jemen: Humanität ist unteilbar

129 Tote und etwa 200 Verletzte – eine grauenhafte Bilanz. Da kann man nichts anderes als einstimmen in “Wir sind eins“, trauern um die Opfer, mitfühlen mit den Angehörigen.

Ja, echt?! Jetzt wirklich?!! Machen wir einen Orts- und Szenenwechsel. Wir gehen zurück zum 28. September 2015, in den Jemen ins Dorf Al Wahijah in der Provinz Taiz. Es wird eine Hochzeit gefeiert. Mehrere hundert Gäste waren eingeladen. Wie im Jemen üblich, feierten Männer und Frauen getrennt. Man hatte zwei Zelte aufgebaut, eines für Männer und eines für Frauen. Augenzeugen hatten vor den Angriffen ein Flugzeug gehört.

Dann griffen saudische Kampfflugzeuge (oder von ihren Verbündeten, auch Ägypter und die Vereinigten Arabischen Emirate beteiligen sich am Luftkrieg) die Hochzeitsgesellschaft an. In einem doppelten Luftschlag wurden 142 Menschen getötet (92 Frauen, 27 Kinder, 23 Männer; nach anderen Angaben waren es insgesamt 131 Tote), 204 wurden schwer verletzt. Da das Frauenzelt schwerer getroffen wurde, sind die Opfer zum großen Teil Frauen und Kinder.

Der Leiter des Krankenhauses in der nahen Stadt Mokha erklärte, dass sein Personal keine Erfahrung mit derart schweren Verwundungen habe, dass das Krankenhaus keinen Platz habe, um die Verwundeten unterzubringen und es an medizinischem Material fehle (das auch wegen der saudischen Seeblockade, die den allergrößten Teil von Importen verhindert!). Außer den Verwundeten wurden auch Leichen in das Krankenhaus gebracht.

Viele, die bei dieser Hochzeit starben, starben nach Hassan Boucenine von Ärzte ohne Grenzen, "weil das Krankenhaus in Mokha wegen fehlendem Nachschub geschlossen ist – keine Medikamente, kein Brennstoff, kein Strom, gar nichts, so dass die Mitarbeiter gegangen sind.“ Stattdessen mussten die Verletzten in die Provinz Hodeida transportiert werden – in LKWs, die in der Regel für den Transport von Vieh verwendet werden, mit der Folge, dass viele auf dem Weg starben.

Bilder (nichts für sensible, 18 +): http://poorworld.net/Yemen/YemenImages328.htm und http://poorworld.net/Yemen/YemenImages329.htm und http://poorworld.net/Yemen/YemenImages330.htm).

142 oder 131 Tote und etwa 200 Verletzte – eine grauenhafte Bilanz. Da kann man nichts anderes als einstimmen in “Wir sind eins“, trauern um die Opfer, mitfühlen mit den Angehörigen. Oder wie war das?

Für mehr als dürre Kurzmeldungen hat es in den deutschen Medien nicht gereicht. (Etwa Süddeutsche Zeitung: http://www.sueddeutsche.de/politik/jemen-angriff-auf-hochzeitsfeier-1.2670331 und http://www.sueddeutsche.de/politik/arabische-halbinsel-mindestens-tote-zivilisten-bei-angriff-auf-hochzeitsfeier-im-jemen-1.2670539; Tagesschau: https://www.tagesschau.de/ausland/jemen-439.html ; taz: https://www.tagesschau.de/ausland/jemen-439.html ; Deutsche Welle: http://www.dw.com/de/verheerende-luftangriffe-im-jemen/a-18746590), wenn überhaupt.

Das war’s dann. Weil der Jemen weiter weg liegt, weil die Menschen dort uns fremder sind, oder weil sie uns durch die veröffentlichte Meinung fremder gemacht werden, oder weil unsere saudischen Verbündeten (die ja von unseren besten Freunden in Amerika massiv unterstützt werden) das angerichtet haben? Wieviel an Doppelmoral bei dem Blick auf die Opfer von Terrorverbrechen dürfen wir uns erlauben?

Beschmutzt unsere Trauer nicht!

Dieser Vorwurf kann natürlich nicht an diejenigen gehen, die jetzt in der ganzen Welt um die Opfer der Pariser Anschläge trauern. Wohl aber an all diejenigen, die ein solches Ereignis politisch für ihre Zwecke ausnutzen und an all diejenigen, die aus dem einen ein weltweit alles beherrschenden Medienereignis, aus dem anderen nur eine dürre Viersätzemeldung machen.

129 Tote und etwa 200 Verletzte hier, wie auch 142 (oder 131) Tote und etwa 200 Verletzte dort – eine grauenhafte Bilanz. Da kann man nichts anderes als einstimmen in “Wir sind eins“, trauern um die Opfer, mitfühlen mit den Angehörigen. Und unsere Politiker mögen das tun, was sie am wenigsten gut können: Haltet jetzt den Mund. Ihr seid jetzt nicht gefragt.

Zum Weiterlesen:

https://www.freitag.de/autoren/lutz-herden/extrem-verwundbar

https://www.freitag.de/autoren/hans-springstein/pourquoi-la-guerre

https://www.freitag.de/autoren/dklose/krieg-gegen-menschen-religion-und-kultur

https://www.freitag.de/autoren/dklose/die-amerikanische-hand-im-syrienkrieg

https://www.freitag.de/autoren/dklose/der-westen-und-der-buergerkrieg-in-syrien

http://diewirklichewirklichkeit.com/2015/08/03/baschar-al-assad-vom-freundlichen-augenarzt-zum-schlaechter-von-damaskus-in-nur-zwei-monaten/

https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/extrem-geplant

https://www.freitag.de/autoren/dklose/saudis-und-usa-starten-einen-religionskrieg

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-10/islam-saudi-arabien-salafismus-dogmatismus/

https://nocheinparteibuch.wordpress.com/2015/01/12/was-die-massenmedien-zum-charlie-hebdo-terroranschlag-verschweigen-wahhabismus-takfirismus-und-saudi-arabien/

Weitere Links zu den Pariser Anschlägen:

http://www.altermannblog.de/das-ende-der-spassgesellschaft/

http://www.jenapolis.de/2015/11/15/irgendetwas-mit-paris-notinmyname-ich-bin-muede/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dietrich Klose

Vielfältig interessiert am aktuellen Geschehen, zur Zeit besonders: Ukraine, Russland, Jemen, Rolle der USA, Neoliberalismus, Ausbeutung der 3. Welt

Dietrich Klose

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