Ein unmöglicher Spagat

Zwischenruf Angesichts der Aussicht, monatelang keine professionelle Kinderbetreuung zu haben, brauchen Eltern kein Durchhalteparolen – sie brauchen echte Hilfe bei der Care-Arbeit

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„Wie soll die Arbeitsleistung über Monate organisiert und erbracht werden, während man „nebenbei“ sein(e) Kind(er) betreut oder beschult?“
„Wie soll die Arbeitsleistung über Monate organisiert und erbracht werden, während man „nebenbei“ sein(e) Kind(er) betreut oder beschult?“

Foto: imago images / PA Images

„Wir müssen uns organisieren, sonst überleben wir das Ganze nicht.“ Das ist die Schlussfolgerung eines Gruppenchats junger Mütter angesichts der Empfehlungen der Leopoldina, an denen übrigens nur zwei Frauen, aber dafür drei Thomasse und drei Jürgen mitschrieben: „Da kleinere Kinder sich nicht an die Distanzregeln und Schutzmaßnahmen halten können, gleichzeitig aber die Infektion weitergeben können, sollte der Betrieb in Kindertagesstätten nur sehr eingeschränkt wiederaufgenommen werden.“ So nachvollziehbar eine solche Empfehlung aus Infektionsgründen sein mag, so sehr stellt sie uns Mütter vor existentielle Sorgen und unlösbare Probleme (und so sei das Verb „überleben“ auch gedeutet): Wie soll das gehen, die Kinderbetreuung zu Hause hinkriegen und dabei aber bitteschön weiterarbeiten? Und bitte nicht jammern, weil: Anderen geht es ja noch schlechter. Nur ähm, mal ganz ehrlich: Kleinkinder betreuen UND gleichzeitig arbeiten geht nicht. Ein eigentlich unmöglicher Spagat, der jetzt über fast fünf Wochen gelang, und nun schmerzt. Und noch ungewiss lang gehalten werden soll.

Es sei daran erinnert, dass es viele gute Gründe gibt, warum wir als Gesellschaft die Kinderbetreuung als Teil der Daseinsvorsorge ausbauen, möglichst ganztags und früh – eben damit Eltern nach Mutterschutz und Elternzeit möglichst beide selbstbestimmt arbeiten können, Kindern schon früh professionelle und bestmögliche Betreuung, Erziehung, Bildung ermöglicht werden. Kinderkriegen soll nicht mehr automatisch das Ende und den Knick in der beruflichen Laufbahn für viele Frauen bedeuten, das Risiko der Armut im Alter erhöhen. Die mit der Fürsorge und Verantwortung für die gute und gesunde Erziehung von Kindern einhergehende Belastung soll auf mehr Schultern als die der leiblichen Familie verteilt werden. Unser Konstrukt als Gesellschaft beruhte darauf, dass wir die Kinderbetreuung zumindest für Stunden an andere delegieren. Ungelöst blieben die massiven Probleme, die die Auslagerung der Sorgearbeit aus den Kleinfamilien mit sich bringt, da die Pflege von Kindern genauso wie die von Alten und Kranken in unserer Gesellschaft immer noch viel zu wenig anerkannt, prekär finanziert und schlecht bezahlt wird. Das führt dazu, dass Sorgearbeit in transnationalen Care-Ketten oft an meist schlecht(er) bezahlte oder nur informelle Arbeiter*innen aus dem europäischen und globalen Süden ausgelagert wird.

Die Sorgekrise schlägt zurück

Durch Corona schlägt die Sorgekrise nun mit voller Wucht zurück: Die Krippen und Kitas werden bis auf weiteres, wenn überhaupt, nur „im Notbetrieb“ fahren, Tageseltern dürfen nicht arbeiten, Großeltern und andere ältere Menschen, die zwar Zeit hätten, können aus Gründen des Infektionsschutzes nicht für die Betreuung berücksichtigt werden, Babysitter oder andere private Kinderbetreuungspersonen sind für die meisten Eltern schlicht unbezahlbar. Wohin nun mit den Kindern? Wie sollen Eltern, die nicht im Homeoffice arbeiten oder als „systemrelevant“ Notbetreuung beanspruchen können, die Kinderbetreuung organisieren? Und für diejenigen im Homeoffice: Wie soll die Arbeitsleistung über Monate organisiert und erbracht werden, während man „nebenbei“ sein(e) Kind(er) betreut oder beschult? Wie soll man Kinderbetreuung, Haus- und Lohnarbeit innerhalb einer vielleicht sogar kleinen Wohnung ohne Balkon oder Garten und mit vielen Kindern organisieren, ohne durchzudrehen? Wie sollen Alleinerziehende diese Situation schultern, oft ohne Entlastung – und womöglich bald ganz ohne Job oder ohne Chance, wieder einen zu finden, weil es keine Lösung für das „Betreuungsproblem“ gibt? Wie Eltern mit Kindern mit erhöhtem Pflegeaufwand? Wie soll ein Wiedereinstieg in den Beruf aussehen, wenn man nach der Elternzeit keine Kinderbetreuung hat oder bis auf weiteres erhält? Und wie sollen werdende Eltern unter diesen Umständen Elternzeit planen?

Die Betreuung der Kinder als individuelles Problem

Kinderbetreuung und die Beschulung der größeren Kinder werden durch Corona wieder individualisiert, sind ohne gesellschaftliche Organisation vor allem ein individuelles Problem. Sie werden komplett in die Kleinfamilie verlagert, wie auch immer die sich darstellt. Einige Eltern können sich durch Verwandte und Freund*innen behelfen oder organisieren sich in Betreuungsgemeinschaften. Aber auch hier stellt sich immer wieder die Frage des Lastenausgleichs: Wenn du mein(e) Kind(er) betreust, muss ich das auch irgendwie aufwiegen. Woher Zeit oder andere Formen von „Wiedergutmachung“ nehmen? Auch „Notgemeinschaften“ werden nicht selten von Nachbar*innen und Verwandten aufgrund des Infektionsrisikos kritisch beäugt oder unter Generalverdacht gestellt. Ich durfte mich bereits rechtfertigen: Der Kontakt unter Kindern außerhalb ihrer Familien allgemein und konkret, dass wir uns mit anderen Familien zwecks gegenseitiger Kinderbetreuung unterstützen, sei „in Zeiten von Corona“ nicht angebracht. Und darüber hinaus außerhalb der Arbeitszeit auch nicht notwendig. Dass unsere Arbeitszeiten dem Virus und Infektionsschutz genauso egal sind wie den Kindern, wird hierbei geflissentlich außen vor gelassen.

Die „Zeiten von Corona“ stellen auch unsere Beziehungen auf neue Bewährungsproben: Wer steckt wo zurück, teilt sich wo ein, plant und organisiert, damit alles läuft? Machen wir uns nichts vor: Das Patriarchat ist träge und die Rollen und die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern verändern sich nur langsam. Die tägliche Fürsorge-Arbeit und die damit verbundene mentale Last sind bis heute vor allem Sache der Mütter. Schon vor Corona verdienten Frauen weniger, arbeiteten öfter Teilzeit und übernahmen mehr Care-Arbeit. Die aktuelle Situation verschärft diese bestehenden Ungleichheiten: Durch die fehlende Kinderbetreuung und das Home-schooling ist Vereinbarkeit für viele kaum noch darstellbar, Frauen fallen durch diese Situation schneller in unbezahlte Freistellung, Arbeitslosigkeit oder in (noch) größere finanzielle Abhängigkeiten von ihren Partnern. Von den immensen psychischen und physischen Belastungen oder der Gefahr häuslicher Gewalt in dieser Zeit gar nicht erst zu sprechen. Müttergenesungswerk, Therapeut*innen und Sozialarbeiter*innen dieser Republik, seid vorgewarnt: Nach Corona werden mehr erschöpfte Mütter denn je wieder zusammengeflickt werden müssen.

Was wir brauchen

Was wir brauchen anstelle von Durchhalteparolen, Bastelanleitungen oder belehrenden Gesprächen, die jammernden Eltern erklären, dass die Zeit mit unseren Kindern nie wiederkomme und man doch das Beste draus machen solle (ach!):

Regierende, die anerkennen, dass Kinder, ihre Versorgung, Betreuung und Bildung nicht nur Privatsache sind und dass der nun zu gehende Pfad nicht jegliche Verantwortung in die Kleinfamilien und damit oftmals in so wieder neu entstehende Rollenmodelle der 1950er Jahre abschieben darf. Die verstanden haben, dass Menschen in Erziehungs- und Bildungsberufen langjährig ausgebildet und qualifiziert sind, und dass die Betreuung neben der Lohnarbeit in der Kleinfamilie hierfür kein Ersatz ist. Wir brauchen eine Sichtbarmachung der unsichtbaren Sorgearbeit, die jetzt jede*r ganz individuell und oft prekär mit ihrer*seiner Arbeit und den Arbeitgeber*innen aushandeln soll, und die nicht einfach nebenher „mitläuft“. Wir brauchen gesellschaftlich und staatlich konkrete Unterstützung, Sicherheit und Entlastung, die mehr ist als das appellative Anrufen von Arbeitgeber*innen, berufstätigen Eltern eine „flexible Handhabung von Arbeitszeit und –ort“ zu ermöglichen. Wir brauchen Gewerkschaften und Beschäftigte, die für eine echte Vereinbarkeit von Lohn- und Sorgearbeit kämpfen. Wir brauchen ein Bewusstsein für die Bedürfnisse von Eltern, die sich auch ausruhen können müssen. Und vor allem brauchen wir eine konkrete Umverteilung der Belastungen und Bedürfnisse (wie viele Menschen sind unfreiwillig arbeitslos oder in Kurzarbeit, während andere vor Mehrfachbelastung oder 12-Stunden-Schichten völlig überbelastet sind?), Hinweise und Unterstützung bei der Frage, wie Sorgearbeit z.B. in Nachbarschaften sinnvoll gemeinschaftlich, solidarisch organisiert werden kann, echte Diskussionen über die Möglichkeiten von Erziehungsurlaub und Elterngeld, eines pauschalen Anerkennens der Sollarbeitszeit im Homeoffice, von Arbeitszeitreduktionen bei vollem Lohnausgleich für Eltern oder systemisch und langfristig gedacht einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung zugunsten der Beteiligung aller an Sorgearbeit, wie von Frigga Haug und anderen als 4-in-1-Perspektive seit Jahren vorangetrieben, oder über ein bedingungsloses Care-Einkommen, wie es beispielsweise der Global Women’s Strike and Women of Color derzeit in einem offenen Brief fordern.

Die Weichen für die Organisation der Krise und der Zeit danach werden jetzt gestellt. Es ist deshalb jetzt die Zeit, sich zu organisieren und für alle zu streiten, die unsere Gesellschaft am Laufen halten, ob durch die bezahlte Care-Arbeit in den derzeit „systemrelevanten“ Berufen oder das unbezahlte Kümmern zuhause. Es ist Zeit anzuerkennen, dass das Zentrum unserer Gesellschaft eben nicht (nur) die Produktion, sondern vor allem die Reproduktion, die Sorge um das Leben, ist, dass Care mehr ist als der Gesundheitssektor, dass Eltern Unterstützung und Kinder wirklich ein Dorf brauchen und dass Arbeiten und Aufopfern bis zum Umfallen weder in den systemrelevanten Berufen noch in der Care-Arbeit zuhause gesellschaftlich toleriert werden sollten. Die gesellschaftliche Verantwortung, unser Reichtum und auch das Krisenmanagement wird in allen Bereichen von Care gebraucht. Auch diese Einsichten sind eine Frage des Überlebens für gesunde Kinder, Eltern und unsere Zukunft als Gesellschaft – und für den sozialen Frieden.

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