Eine Gasprinzessin namens Lady Ju

Wahlen in der Ukraine Julia Timoschenko will nicht nur ins Parlament, sondern auch den Präsidenten stürzen

Ein Rekord an vom Staat nicht ausbezahlten Renten, Sozialbeihilfen und Löhnen wird am 31. März zu verzeichnen sein, wenn die Ukraine ein neues Parlaments wählt. Im elften Jahr ihrer Unabhängigkeit ist der osteuropäische Staat auf seinem "Weg zur Errichtung des Kapitalismus" weit vorangekommen. 80 Prozent der Bevölkerung sind nach jüngsten Umfragen der Auffassung, an Lebensstandard verloren zu haben. Inwieweit der Urnengang so zu einem Misstrauensvotum für Präsident Leonid Kutschma und die ihm nahestehende Partei Für eine einige Ukraine sein wird, bleibt abzuwarten. Es gibt keine wirklich linke oder rechte Opposition gegen den Staatschef. Die oppositionellen Sozialisten, Kommunisten wie auch die einflussreiche Agrarpartei sind nichts anderes als Bruchstücke eines Staatsapparates, der die Macht unter sich verteilt hat.

Wahrscheinlich wird der Volksmund wieder eine neue Bezeichnung für die 41-jährige Frau finden, die derzeit noch "Lady Ju" genannt wird. Julia Timoschenko ist Vorsitzende der Vaterlandspartei und Spitzenkandidatin der Vereinigung Wahlblock Julia Timoschenko - und entschiedene Kritikerin des Präsidenten Kutschma. Sollte Timoschenkos Wahlblock die Vier-Prozent-Hürde nehmen, will sie als Abgeordnete im ukrainischen Parlament Verchovna Rada sitzen und mit dem Block Unsere Ukraine des im Westen als Reformpolitiker geschätzten Viktor Juschtschenko kooperieren.

Aufhaltsamer Aufstieg


Vor genau einem Jahr machte Julia Timoschenko die wohl schwerste Zeit ihres Lebens durch - sie saß wegen des Verdachts des Schmuggels und der Steuerhinterziehung für sechs Wochen in Untersuchungshaft, herauskatapultiert aus dem Kabinett, dem Zentrum der Macht. Dorthin war sie Ende 1999 vom damaligen Premier Juschtschenko geholt worden, der mit Timoschenkos Insiderkenntnissen den Energiesektor "aufräumen" - sprich: den Händen der Oligarchen entreißen wollte. Bald hieß es, Timoschenko sei der einzige "richtige Kerl" in der Regierung.
Ihre wirtschaftliche Laufbahn hatte sie in Zeiten der Perestroika als Geschäftsführerin eines Videosalons begonnen. Nachdem der ausgeraubt und bankrott war, baute sie in ihrer Heimatstadt Dnjepropetrowsk eine Ölfirma für Abnehmer aus der Landwirtschaft auf - der Versuch, eine Versorgungslücke zu schließen, die nach dem Zusammenbruch des staatlichen Verkaufsmonopols entstanden war. Dass sich der Betrieb schnell zum Konzern Vereinigte Energiesysteme der Ukraine auswuchs, war der Reformpolitik Pawel Lasarenkos, des zweiten Regierungschefs der Ära Kutschma zu danken. Dank seiner Reorganisation des Gasmarktes versorgten die Vereinigten Energiesysteme bald die lukrativsten Industrieregionen des Landes. Timoschenko avancierte dadurch zum Mitglied der Oligarchie, eine Millionen Dollar schwere "Gasprinzessin" und die zentrale Figur des von Lasarenko gebauten Strom- und Gasmarktes der Ukraine. Eine Brücke von der Wirtschaft zur Politik war geschlagen.
Doch zur Fortschreibung dieser Erfolgsstory auch auf dem Kohlesektor blieb plötzlich keine Zeit mehr. Kutschma entließ die unbequem werdende Ministerin wegen angeblicher Inkompetenz und hob ihre Immunität auf. Staatsanwaltliche Ermittlungen nahmen ihren Lauf. Schließlich gelang es Kutschma, einen Keil zwischen Timoschenko und Premier Juschtschenko zu treiben, indem er letzteren einen Appell An das ukrainische Volk unterzeichnen ließ. Darin wurden all jene als "Faschisten" bezeichnet, die an Massenprotesten gegen den Präsidenten nach der Ermordung des Journalisten Gongadse teilgenommen hatten, also auch und vor allem Timoschenko.

Mysteriöser Unfall


Dass Juschtschenko ihr seinerzeit keine Rückendeckung gab, belastet die Beziehung zwischen den beiden Reformern bis heute. Eine Fusion der Wahlvereinigung von Timoschenko mit der von Juschtschenko geführten Partei Unsere Ukraine vor dem 31. März ist so nicht zustande gekommen. Die Gerüchte über die Gründe lassen kein eindeutiges Urteil zu. Einmal heißt es, die willensstarke Timoschenko hätte nur mit Unsere Ukraine zusammengehen wollen, falls ihr die Führungsrolle zuerkannt worden wäre. Dann wieder ist zu erfahren, ihr Block hätte mit Unsere Ukraine selbst für den Fall koaliert, wenn für sie nur die Rolle einer Putzfrau geblieben wäre.
Aufschlussreich ist die Tatsache, dass Juschtschenko mit dem Hinweis abgelehnt haben soll, er stehe "nicht in Opposition zu Kutschma", sondern versuche vielmehr, alle Demokraten zu vereinen, die mit dem Präsidenten zusammenarbeiten wollten.
Gegen die in den Umfragen an zweiter Stelle liegenden Kommunisten, gegen die vereinigte Sozialdemokratie, gegen den Kutschma zugeschriebenen Wahlblock Für eine einige Ukraine (s. Übersicht) könnte es allerdings kritisch werden, die Vier-Prozent-Hürde zu nehmen. Ein Vertrauter Timoschenkos meint, man rechne mit bis zu sieben Prozent, auch wenn die Demoskopen bestenfalls fünf prophezeien.
"Lady Ju" stand im Wahlkampf nicht nur unter seelischem Druck. Zur flächendeckenden Weigerung der Medienlandschaft, über sie zu berichten oder Wahlspots auszustrahlen, kam ein Verkehrsunfall in Kiew Ende Januar. Timoschenko ist überzeugt, Opfer eines Attentats geworden zu sein. Rippenbrüche und eine Verletzung im Gesicht fesselten sie mehrere Wochen ans Bett. Die Route ihrer Wahlkampftour im März galt daraufhin als "geheime Verschlusssache".
Sollte sie in die Rada einziehen, will sie den Präsidenten zwingen, seiner Abdankung näher zu treten. Nur so werde das seit langem gestörte Gleichgewicht zwischen Legislative, Exekutive und Judikative wiederhergestellt, ist sie überzeugt. Zugleich denkt Timoschenko an eine rigorose Steuerreform - das wäre nicht weniger als eine Kriegserklärung an die Schattenwirtschaft. Außenpolitische Entscheidungen, die das Verhältnis der innerlich zerrissenen Ukraine zu Westeuropa und der EU auf der einen Seite und zu Russland auf der anderen betreffen, will Timoschenko allein vom Standpunkt der nationalen Interessen der Ukraine in der jeweiligen Situation fällen. Zu oft werde derzeit außenpolitischem Druck nachgegeben. Die "Gasprinzessin" kann sich durchaus vorstellen, die Abhängigkeit von russischem Gas und russischem Wohlwollen durch eine Allianz mit Turkmenistan zu beenden.

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