Vom Scheitel bis zur Sohle

Russland Rutenbündel, Zinkwannen und das dampfende Elysium irgendwo in Sankt Petersburg

Der Ort erinnert an die Welteinteilung aus Dantes Göttlicher Komödie, denn der Gast einer städtischen Banja muss sich gleich zu Beginn unwiderruflich entscheiden: Männer- oder Frauenabteilung - alles andere danach hat Zeit und verliert sich in einem Labyrinth aus Gängen, Nischen, Hallen, Kammern und Hitze und Zeit.

Zumeist gehören die Banjas zu auffallend jahresschweren, klobigen Mietshäusern, die wie alle kommunalen Gebäude in Russland, die heutzutage etwas auf sich halten, doppelte Außentüren besitzen, um Kälte und ungebetene Gäste abzuhalten. An der Pforte bezahlt der Banja-Besucher in einem kleinen Verlies einen mit dem Wochentag und der Tageszeit wechselnden Obolus zwischen 15 und 30 Rubel, was in etwa dem Wert von zwei bis fünf Petersburger Metrofahrten oder anderthalb bis vier Mischbroten entspricht. Die Scheine müssen durch einen halbmondförmigen Schlitz unter einer Plexiglasscheibe einer mit wenig Geld vom Staat entlohnten, den Tag geduldig absitzenden Frau zugeschoben werden, die ihrerseits einen Kassenbon zurückschiebt. Diese Art von "Diensthabenden" gibt es allenthalben in öffentlichen Einrichtungen des Landes: Jeder Trolleybus beschäftigt neben dem Fahrer eine Schaffnerin; jedes große Hotel Fahrstuhlführer und -führerinnen, das Petersburger Puschkinmuseum mehrere Angestellte, die stundenlang nichts anderes tun, als Kassettengeräte in vier Sprachen für den Rundgang auszugeben.

In der Banja selbst begegnet man auf der langen Tour über Treppen, Flure und Korridore in Nischen, Verschlägen und Kämmerchen unablässig dieser Spezies der Diensthabenden: Garderobieren im Umkleideraum oder Bademeisterinnen in der Waschhalle oder Aufgießerinnen in der "Parilnja". Die Garderobieren sind dabei am einprägsamsten, an ihrem Tisch muss jede vorbei, die in die Frauen-Banja will. Garderobieren sind hager, älteren Semesters, stecken in roten Kitteln, ballen die Fäuste leicht in den Seitentaschen und tragen an den Knien ausgebeulte Wollstrumpfhosen. Beim Sprechen achten sie auf einen gleichbleibenden Gesichtsausdruck. Ihnen wird der Kassenbon übergeben, den sie mit missmutiger Geste auf ein mit Nägeln beschlagenes kleines Brett spießen. Dann erfolgt mit Bleistift der Eintrag auf einer Plastikplatte mit eingeritzten Quadraten, der später wieder ausradiert wird.

Eine Banja ist selten leer ...

... und der Tarif wird vom Staat nach Kräften niedrig gehalten, vielen Petersburgern beispielsweise gilt der wöchentliche Besuch als einzige Möglichkeit, sich ungestört und ohne Hast am ganzen Körper zu reinigen. Die Banja ist der große, kollektive Badezimmerersatz für viele, die in einer "kollektiven Mehrfamilienwohnung" - der so berühmten wie verrufenen Kommunalka - leben. Diese für Petersburg ebenso wie Moskau, Tula, Kasan oder Jaroslawl typische Wohnart samt Lebensweise existiert seit den zwanziger Jahren. Damals, kurz nach der Oktoberrevolution, wurde die Bevölkerung der großbürgerlich geprägten Städte Russlands vielfach ausgetauscht, besonders Aristokraten sahen sich verbannt oder gingen in die Emigration (aus Petersburg unter anderem die Philosophen Berdjajew und Stepun, der Schriftsteller Wladimir Nabokow, die Maler Sonia Terk Delaunay und Nicolas de Staël). Eine Konsequenz der Enteignung bestand darin, zuströmende, teils obdachlose Familien in die großzügigen Wohnungen der Petersburger Hautevolee einzuquartieren: jede Familie konnte ein Zimmer beanspruchen, maximal zwei. Diese Art, dem Wohnungsmangel zu begegnen, vermochte sich über die Zeiten zu bringen und existiert bis heute: der größte Teil der Petersburger Altbausubstanz beherbergt nach wie vor diese "Wohngemeinschaften wider Willen", in denen Toilette und Bad von vielen gemeinsam benutzt werden und entsprechend verschlissen sind, um es vorsichtig auszudrücken Allein damit lässt sich die Beliebtheit der Banja erschöpfend erklären.

Ist man endlich ausgezogen ...

... und hat seine Siebensachen - Badelatschen, Shampoo, Seife, Schwamm, das Rutenbündel, die Mütze, das Handtuch, das Badelaken - zusammengesucht, verlässt man den Umkleideraum über Frauenruheräume, Raucherräume, WC-Trakte, Duschräume und Durchgangsräume, in denen einfach nur eine Waage stehen kann, und gelangt ins "Elysium" der Anstalt: die Waschhalle mit einer Unmenge von gusseisernen, ewig stumpf beschlagenen Wasserhähnen und unverwüstlichen Zinkwannen. Hier herrscht ein Kommen und Gehen von Frauen jeden Alters, in Dampf gehüllt, mit heißem und kaltem Wasser spritzend, mit Seifenschaum und vor allem Kaffeesatz bedeckt, der als beliebtes Hautmassagemittel zweitverwertet wird. Viele Petersburgerinnen geben sich nach dem Ein- und Abseifen ausgiebigen Schaumorgien hin. (Ob das auch bei den Männern der Fall ist, entzieht sich meiner Kenntnis.) Dabei sitzen sie auf Holzbänken und vor Zinkwannen mit zwei Henkeln, die den in Deutschland einst für die Handwäsche gebräuchlichen Emailleschüsseln ähneln. Eine solche - je unversehrter, desto begehrter - versucht sich jede Besucherin sofort zu sichern, wenn sie in die Waschhalle vordringt. Gleiches gilt für eine der Bänke, auf der deutlich sichtbar als Zeichen vollzogener Landnahme sämtliche Utensilien verteilt werden.

In dieser Treibhausatmosphäre trennt nur noch eine Holztür vom ersehntesten Refugium der Anstalt, der Parilnja (abgeleitet vom russischen Wort für Dampf: "Par"). Dort, in der Sauna, hocken die Frauen dicht gedrängt auf einem Podest, das über drei gewaltige Stufen zu erklimmen ist, dort hocken sie auf Handtüchern, Plastiktüten oder ausrangierten Laken und unter Turbanen oder Mützen, damit die Haare nicht verdorren. Bei 80 bis 90 Grad kreisen alle im ewigen Laufrad von Aufguss, weggeducktem Stillsitzen, angestrengtem Auf- und Durchatmen und - wenn man wieder stehen kann, ohne sich zu verbrennen - einsetzenden Schlägen mit Rutenbündeln aus Birken-, Weiden- oder Eichenlaub. Von der kleinen Zehe bis zum kleinen Finger bearbeiten die Frauen ihre Haut mit unterschiedlich handfesten Hieben, nur der Rücken muss von der Nachbarin bearbeitet werden.

Unter dieser mit Lauten des Wohlbefindens angereicherten Betriebsamkeit entspannt sich die Atmosphäre weiter. Nach und nach verlässt eine nach der anderen wieder die Parilnja, um sich in der Waschhalle aus Zinkschüsseln eiskaltes Wasser vom Scheitel bis zur Sohle über den Körper zu gießen. Die Zurückbleibenden machen es sich auf den leerer werdenden, angenehm heißen Rängen bequem, kurze Gespräche flackern auf. Welche andere Banja jetzt wieder eröffnet wurde, wie das Wetter die Qualität des Dampfes beeinflusst, welche Leiden todsicher zu kurieren sind in der "Parilnja", wohin es noch gehen soll an diesem Tag.

Manchmal werden Erinnerungen ausgetauscht: eine Frau denkt laut an den ersten Blockadewinter 1941/42, als bei minus 40 Grad gefroren und gehungert wurde und 600.000 in der von deutschen Truppen eingekreisten Stadt starben. Und daran, wie nach der Blockade - "Ende Januar ´44 muss das gewesen sein" - die erste Banja wieder öffnete. "Was das damals für ein Fest war ..."

Manchmal können die Geräusche in der Parilnja beängstigend sein. Kreischend aufgeklappte Eisentüren, wenn der Ofen einen neuen Aufguss kriegt, das herrische Zischen des Wassers auf glühendem Stein, die Gespräche der Frauen, die unversehens in einen heftigen Streit übergehen können, wenn die Ansichten darüber auseinander gehen, ob und wann es heiß genug ist, und ob es gut sein kann für die Füße, über die aufgeweichten Laubblätter aus den Rutenbündeln zu gehen - oder verhängnisvoll. Nur die Banja selbst kennt die richtige Antwort auf diese weitreichende Frage.

Die Autorin ist Korrespondentin eines Netzwerkes junger Journalisten in Osteuropa.


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