Der Sommer 2006 war der vielleicht beste Sommer meines Lebens. Dabei war ich nicht einmal in Deutschland, sondern in einem Auslandssemester, das ich ernsthaft überlegt hatte, vorher abzusagen, um nicht die Weltmeisterschaft im eigenen Land zu verpassen. Stattdessen flog ich aus Italien für eine Woche zurück nach Berlin, um wenigstens etwas WM-Stimmung aufzusaugen.
Ein Freund kam mich besuchen. Da ich aber keine Wohnung mehr in Berlin hatte, ließ uns ein anderer Kumpel, der gerade nicht da war, in seiner Bude schlafen. Er hatte uns aber keinen Haustürschlüssel hinterlassen. Stattdessen ließ sich die Tür mit einer Scherbe aus Plastik öffnen, die wir aus einer Colaflasche geschnitten hatten und mit uns herumtrugen wie einen Schatz. Nachts wickelten wir uns in die Vorhänge, weil keine Decken da waren. Aber das war uns egal. Wir waren sowieso die meiste Zeit unterwegs, auf der Straße, die voller Menschen war, Brasilianer, Kroaten, Schweden, und vor allem Brasilianerinnen, Kroatinnen und Schwedinnen. Die Stadt war ein Fest.
Es gab auch schlechte Erinnerungen. Ich wurde bespuckt, weil ich bei einem Deutschland-Spiel ein Polen-Trikot trug. Und ich habe meine damalige Freundin betrogen und deswegen den Anpfiff verpasst. Missen möchte ich nichts, außer das mit dem Fremdgehen, das tut mir wirklich leid. Ich habe diese Stadt und dieses Land nie fröhlicher erlebt. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, für all das müssten wir vorab schwarz bezahlen, hätte ich nicht lange gefragt, wie viel, sondern alles, was ich hatte, dafür hergegeben, sogar meine Plastikscherbe. Heute wissen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland diese WM gekauft hat. Und wie ich feststelle, ist es den meisten Menschen, die ich kenne, egal. „Und wir hatten trotzdem einen geilen Sommer!“, sagt mein Kumpel von damals. „Das kann uns keiner mehr nehmen.“ Sollen die schönen Erinnerungen etwa falsch sein, nur weil sie aus heutiger Sicht von Unrecht umgeben waren? „Genau diesen Widerspruch müssen wir seit 25 Jahren aushalten“, hat mir ein ostdeutscher Arbeitskollege gesagt. Jetzt seien wir Deutschen alle im Widerspruch wirklich vereint.
Aber wir Deutschen lieben doch Regeln, warum sind sie uns beim Sommermärchen egal? Weil wir damals so undeutsch waren, so locker? Natürlich ist es nicht egal, wenn wir die WM gekauft haben, nur weil das vermutlich alle anderen vorher und nachher auch getan haben. Es bleibt Unrecht. Kann es überhaupt ein wahres Sommermärchen im falschen geben? Und vielleicht war nicht mal unsere Freude echt. 2006, waren das wirklich wir?
Die Busfahrer waren vorher und nachher nie wieder so freundlich wie in diesem Sommer. Und zu Gast bei Freunden hat sich seither auch nicht jeder Ausländer gefühlt. Auch ich breche sonst keine Türen auf und wickele mich nicht in Vorhänge, von Fremdgehen ganz zu schweigen. Ja, das waren wir, so können wir sein, aber nicht ständig. Deswegen war es ja so einmalig. Selbst wenn es rundherum Unrecht gab, wie sich jetzt herausstellt. Aber wir Deutschen sind eben nicht immer nur die Guten, selbst unsere größten Verbände und Unternehmen, der DFB und VW, betrügen bei der Steuer und beim TÜV, wie kleine Sünder auch. Aber wir können auch gut sein, zumindest auf Zeit.
Und diese Erkenntnis hilft uns vielleicht im Moment, wo Fremde vor unserer Tür stehen und die Welt wieder zu Gast bei Freunden sein will. Wie 2006.
Kommentare 8
Ja, was so eine Lichtgestalt alles schafft - sogar die Berliner Busfahrer strahlten. Wäre die WM nicht nach Deutschland gekommen, hätte sie Südafrika bekommen. Beckenbauer sagte schon vor der WM-Abstimmung, daß Südafrika die WM 2010 bekommen soll, was ja auch geschah.
Warum mußte sie unbedingt 2006 nach Deutschland?
Missen möchte ich nichts....
Was man im guten Glauben genossen hat, darf man behalten.
Was nichts daran ändert, dass die damaligen Akteure, einschließlich Franz Beckenbauer, Dreck am Stecken haben:
http://www.sueddeutsche.de/sport/beckenbauer-im-dezember-der-emir-ist-ja-ein-guter-freund-von-uns-1.2724100
Aber sie werden ihn nicht verantworten müssen. Denn wie ich diese Bananenrepublik kenne, wird die Sache entweder im (Wüsten-)Sande verlaufen oder in einem Einstellungs-Kuhhandel nach § 153a StPO enden:
http://www.gesetze-im-internet.de/stpo/__153a.html
...außer das mit dem Fremdgehen, das tut mir wirklich leid
Dann ist es ja gut. Beckenbauer tut es sicher auch Leid. Muss gerade an das Liedchen von Hans Scheibner denken:
"Das macht doch nichts, das merkt doch keiner!"
https://www.lyrix.at/t/hans-scheibner-das-macht-doch-nichts-das-merkt-doch-keiner-794
Natürlich ist es nicht egal, wenn wir die WM gekauft haben
Warum eigentlich nicht? Außerdem kündet Ihr gesamter Blog doch davon, dass es egal ist.
"Das macht doch nichts, das merkt doch keiner!"
Aber selbst wenn es einer merkt, wer ist eigentlich geschädigt worden, außer der Glaube von ein paar Kindern, die sich nicht vorstellen können, dass Fußball ein Geschäft ist und man zum Gewinnen der TdF dopen muss?
Geschädigt wurden
a)
der Fiskus, dem Schmiergeld als Betriebsausgabe untergejubelt wurde,
b)
diejenigen, die meinten, es ginge in diesem Land noch etwas mit rechten Dingen zu. Denn die sehen sich darin bestätigt, dass dem nicht so ist und verhalten sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten entsprechend (Wenn und soweit der Glaube "von ein paar Kindern" geschädigt worden sein sollte, wäre das schlimm genug.)
der Fiskus, dem Schmiergeld als Betriebsausgabe untergejubelt wurde
Das mag sein. Ich bezweifele allerdings, dass diese Erwägung mehr ist als ein Vorwand für die mediale Entrüstung. Wäre das ordentlich versteuert worden, wären die Reaktionen nicht anders. Was die Medien in solchen Situationen treibt, ist die Lust am Göttersturz, mehr nicht. Nicht dass es mir um diese Götter leid täte. Außerdem war das Schmiergeld eine Betriebsausgabe^^ oder ist die Bestechung ausländischer Personen/Organisationen in Deutschland per se strafbar?
diejenigen, die meinten, es ginge in diesem Land noch etwas mit rechten Dingen zu
Du kennst wirklich noch welche, die das im vollen Ernst glauben? Mag sein, dass es sie gibt, aber ich habe Naivität noch nie für Unschuld gehalten. Aber wie dem auch sei: Strafbar ist es wohl eher nicht, Kindern oder Kind Gebliebenen eine Lektion über die Erwachsenenwelt zu vermitteln.
Fußball muss politisch sein.
@Turbo Wamczyk: Mediale Großereignisse sind politisch.
Und da Fußball inzwischen fast ausschließlich kommerziell zu sehen ist, werden selbstverständlich auch Spiele verschoben.
Mindestens seit 2002 muß die Mannschaft des Gastgeberlandes ins Halbfinale, wenn sie nicht ganz so schwach ist wie Südafrika 2010. Siehe Viertelfinalspiele Südkorea-Italien 2002 und Deutschalnd-Argentinien 2006 (Lupus Michel und Pekerman) und ohne Neymar und geschenkte Elfmeter wäre Brasilien 2014 vielleicht auch nicht ins Halbfinale gekommen.