Trotzdem geil

Der Sportsfreund Für ihn gab es ein wahres Sommermärchen im falschen – dafür will sich unser Autor nicht rechtfertigen müssen, nur wegen Beckenbauer & Co
Ausgabe 46/2015
„Und wir hatten trotzdem einen geilen Sommer!“
„Und wir hatten trotzdem einen geilen Sommer!“

Foto: Jan Pitman/Bongarts/Getty Images

Der Sommer 2006 war der vielleicht beste Sommer meines Lebens. Dabei war ich nicht einmal in Deutschland, sondern in einem Auslandssemester, das ich ernsthaft überlegt hatte, vorher abzusagen, um nicht die Weltmeisterschaft im eigenen Land zu verpassen. Stattdessen flog ich aus Italien für eine Woche zurück nach Berlin, um wenigstens etwas WM-Stimmung aufzusaugen.

Ein Freund kam mich besuchen. Da ich aber keine Wohnung mehr in Berlin hatte, ließ uns ein anderer Kumpel, der gerade nicht da war, in seiner Bude schlafen. Er hatte uns aber keinen Haustürschlüssel hinterlassen. Stattdessen ließ sich die Tür mit einer Scherbe aus Plastik öffnen, die wir aus einer Colaflasche geschnitten hatten und mit uns herumtrugen wie einen Schatz. Nachts wickelten wir uns in die Vorhänge, weil keine Decken da waren. Aber das war uns egal. Wir waren sowieso die meiste Zeit unterwegs, auf der Straße, die voller Menschen war, Brasilianer, Kroaten, Schweden, und vor allem Brasilianerinnen, Kroatinnen und Schwedinnen. Die Stadt war ein Fest.

Es gab auch schlechte Erinnerungen. Ich wurde bespuckt, weil ich bei einem Deutschland-Spiel ein Polen-Trikot trug. Und ich habe meine damalige Freundin betrogen und deswegen den Anpfiff verpasst. Missen möchte ich nichts, außer das mit dem Fremdgehen, das tut mir wirklich leid. Ich habe diese Stadt und dieses Land nie fröhlicher erlebt. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, für all das müssten wir vorab schwarz bezahlen, hätte ich nicht lange gefragt, wie viel, sondern alles, was ich hatte, dafür hergegeben, sogar meine Plastikscherbe. Heute wissen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland diese WM gekauft hat. Und wie ich feststelle, ist es den meisten Menschen, die ich kenne, egal. „Und wir hatten trotzdem einen geilen Sommer!“, sagt mein Kumpel von damals. „Das kann uns keiner mehr nehmen.“ Sollen die schönen Erinnerungen etwa falsch sein, nur weil sie aus heutiger Sicht von Unrecht umgeben waren? „Genau diesen Widerspruch müssen wir seit 25 Jahren aushalten“, hat mir ein ostdeutscher Arbeitskollege gesagt. Jetzt seien wir Deutschen alle im Widerspruch wirklich vereint.

Aber wir Deutschen lieben doch Regeln, warum sind sie uns beim Sommermärchen egal? Weil wir damals so undeutsch waren, so locker? Natürlich ist es nicht egal, wenn wir die WM gekauft haben, nur weil das vermutlich alle anderen vorher und nachher auch getan haben. Es bleibt Unrecht. Kann es überhaupt ein wahres Sommermärchen im falschen geben? Und vielleicht war nicht mal unsere Freude echt. 2006, waren das wirklich wir?

Die Busfahrer waren vorher und nachher nie wieder so freundlich wie in diesem Sommer. Und zu Gast bei Freunden hat sich seither auch nicht jeder Ausländer gefühlt. Auch ich breche sonst keine Türen auf und wickele mich nicht in Vorhänge, von Fremdgehen ganz zu schweigen. Ja, das waren wir, so können wir sein, aber nicht ständig. Deswegen war es ja so einmalig. Selbst wenn es rundherum Unrecht gab, wie sich jetzt herausstellt. Aber wir Deutschen sind eben nicht immer nur die Guten, selbst unsere größten Verbände und Unternehmen, der DFB und VW, betrügen bei der Steuer und beim TÜV, wie kleine Sünder auch. Aber wir können auch gut sein, zumindest auf Zeit.

Und diese Erkenntnis hilft uns vielleicht im Moment, wo Fremde vor unserer Tür stehen und die Welt wieder zu Gast bei Freunden sein will. Wie 2006.

Dominik Bardow schreibt in seiner Kolumne für den Freitag regelmäßig über sportives Privatvergnügen

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Geschrieben von

Dominik Bardow

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