"Ich möchte mich bei den Seelen und Geistern in Thailand bedanken.“ Zum Abschluss des 63. Filmfestivals von Cannes würdigte der Gewinner übersinnliche Wesen. Apichatpong Weerasethakul empfand schon seine Ehrung als surrealen Moment – was wiederum nicht verwundert, konnte er doch erst in letzter Sekunde aus dem von Unruhen gebeutelten Bangkok ins Filmmekka an der Croisette kommen. Dort stieß sein Film Uncle Boonmee who can recall his past Lives nicht nur bei Publikum und Filmkritik auf Begeisterung, sondern auch bei der von Tim Burton angeführten Jury. Geister und Wiedergänger sind in Uncle Boonmee, dem fünften Langfilm von Weerasethakul (Tropical Malady), ein selbstverständlicher Teil irdischen Lebens.
Im Mittelpunkt des Films stehen die letzten Tage eines Bienenzüchters in einer am Dschungel gelegenen Region im Nordosten Thailands. Ein Mann, der sich an frühere Leben erinnern kann und mit seinen verblichenen Liebsten in Austausch steht: Als freundlicher Geist materialisiert sich seine Frau beim abendlichen Zusammensein, dann tritt auch noch ein affenähnliches Wesen mit roten Augen hinzu, das sich als verschollener Sohn zu erkennen gibt. Uncle Boonmee war die mit Abstand betörendste Erfahrung im Wettbewerb dieses Jahres. Ein Film, der innerhalb bestehender Bild- und Filmtraditionen eine neue Sprache erschafft – Spiritualität, populäre Mythen, Geschichte und modernistische Formen führt der Regisseur auf bezwingende Weise zusammen. Im Mittelteil begegnet man etwa einer Prinzessin aus der Vergangenheit, die sich nach ihrem verführerischeren Ebenbild in einem Teich verzehrt und sich schließlich mit einem sprechenden Katzenwels vereint. Bei aller Sinnlichkeit, die sich auch über intensives Dschungelgezirpe auf der Tonebene einstellt, bleibt der Film offen für politische Verwerfungen – die Region im Film war Schauplatz von Massakern an kommunistischen Bauern, was die damals beteiligte Hauptfigur nun um das Karma für ihr nächstes Leben bangen lässt.
Die Situation in Thailand mag bei der Auszeichnung Weerasethakuls den Ausschlag gegeben haben – in diesem Fall ist das aber nur gerecht. Mit der Entscheidung des iranischen Regisseurs Jafar Panahi, aus Protest gegen seine Inhaftierung in Hungerstreik zu treten, waren politische Zwangslagen in Cannes auch an anderer Stelle präsent. Rachid Boucharebs allzu behäbiges Algeriendrama Hors la loi sorgte aufgrund seiner Sichtweise eines Massakers vor allem im Vorfeld für Debatten, die verschärfte Sicherheitsmaßnahmen vor dem Kino nach sich zogen. Xavier Beauvois’ lange favorisiertes Drama Des hommes et des dieux löste sein Thema auch im Kino ein: In einer fein kalibrierten Inszenierung stellt es die reale Geschichte einer Gruppe von Zisterziensermönchen in einem Kloster im algerischen Tibhirine nach, die 1996 auf mysteriöse Weise ermordet wurden. Beauvois interessiert sich nicht für den Kriminalfall, sondern für die Bewährungsprobe, die der Glaube zu unsicheren Zeiten zu bestehen hat. Mit viel Feingefühl zeichnet er die Porträts von Mönchen, die durch die Terrorakte islamistischer Gruppen selbst immer mehr in Gefahr geraten und diverse Stadien der Angst, der Unsicherheit und des Zweifels durchlaufen.
Unterschätzter Kitano
Der Wettbewerb von Cannes 2010 wurde von stilistisch selbstsicheren Autoren bestimmt, die vielleicht nicht über sich hinauswuchsen, aber auf hohem Niveau erfreuten: Lee Chang-dongs kunstvoller Film Poetry (Bestes Drehbuch) hat mit der 66-jährigen Mija eine ungewöhnliche Heldin und mit Yoon Jeong-hee eine großartige Schauspielerin. Poetry ist im Vergleich zu Lees letztem Film, dem wuchtigen Melo Secret Sunshine, ein leiserer, zärtlicherer Film, aber ähnlich vielschichtig. Klug erzählt er vom Zusammenprall von Poesie und sozialer Härte: Der zwecklose Blick aufs Schöne wird vom Schatten menschlicher Umtriebe irritiert. Das nicht eben geruhsame Dasein von Mija, deren Erinnerung durch eine beginnende Alzheimer-Erkrankung schwindet, wird unmerklich zum Auslöser einer Inspiration, die sich an den unvermutetsten Stellen versteckt.
Outrage von Takeshi Kitano war der von der Kritik meist unterschätzte Film. Denn Kitanos Rückkehr zum Yakuza-Film hat trotz mancher inhaltlicher Schwäche eine visuelle Konsequenz, die etlichen anderen Beiträgen abging. Mehr als je zuvor scheint es ihm um die reine Funktionalität des Genres zu gehen, um ein schon fast musikalisches Spiel des Tötens, das mit großer Eleganz zelebriert wird. Die Handlung des Films ist auf einen grotesken Kreislauf der Gewalt beschränkt: ein Akt der Provokation generiert den nächsten. Vergeltung wird in Outrage mit Zahnarztbohrern, Essstäbchen und Fausthiebserien geübt.
Außerhalb des Wettbewerbs war es ein Festival der Langfilme, die sich manisch an Einzelpersonen abmühten: drei Stunden Die Autobiografie des Nicolae Ceausescu in Andrei Ujicas Dokumentarfilm, drei Stunden Amoklauf in Cristi Puius Aurora, fünfeinhalb Stunden in Olivier Assayas’ Bio-Pic Carlos. Ujica begleitet die Laufbahn des rumänischen Staatslenkers von 1965 bis zu seiner Erschießung 1989 aus einer Binnenperspektive, die sich ausschließlich aus unkommentiertem Archivmaterial zusammensetzt – opulenten Paraden, heroischen Staatsbesuchen und Klatschmarathons im Kongress, deren zermürbende Qualitäten mit einem schwer greifbaren Surrealismus der Macht einhergehen. Die zeitliche Distanz entfremdet das Material den ursprünglichen Zwecken; Ujicas Entscheidung, praktisch nicht ins Material einzugreifen, gerät zum echten Coup, weil sich Geschichte hier ständig selbst entblößt.
Sie werden von Carlos gehört haben
Olivier Assayas interpretiert den internationalen Terroristen Carlos (eine Entdeckung: Edgar Ramirez) dagegen im Pop-Gestus als einen Selbstdarsteller und Frauenhelden, dessen Fanatismus eher als Produkt eines wahnhaften Männlichkeitsbilds erscheint: „Mein Name ist Carlos. Sie werden von mir gehört haben.“ Weit mehr als jüngere deutsche Arbeiten über linken Terrorismus widmet er sich aber auch den ideellen Begründungen und Auseinandersetzungen der Radikalen.
Aurora kommt schließlich beim einfachen Bürger an und durchleuchtet die Lebensumstände eines Familienvaters, der zum mehrfachen Mörder wird. In langen, meisterhaft orchestrierten Szenen werden oft unglaublich profane Alltagsverrichtungen protokolliert. Der rumänische Regisseur Cristi Puiu spielt den Richter seiner Nächsten selbst: Je länger man diesem pedantischen Mann bei seinen Vorbereitungen zusieht – der erste Schuss fällt erst nach eineinhalb Stunden –, desto undurchdringlicher, ja unheimlicher erscheint er. Es ist die Gleichmut, die in diesem Film den Horror erschafft.
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