Mittagspause auf der Aussichtsterrasse hoch in den Bergen. Ein kurzer Knall, eine kontrolliert gezündete Lawine löst sich. Die Familie sieht zu, der Vater filmt und versichert, es sei alles in Ordnung. Als sich das weiße Ungetüm direkt auf sie zubewegt, wächst die Panik, der Sohn kreischt, danach sind alle ein wenig überzuckert. Niemandem ist etwas zugestoßen, aber dennoch ist nichts wie zuvor. Während die Mutter auf die Kinder geachtet hat, ist der Mann mit dem iPhone ins Lokal gestürzt.
Auf großartig lakonische Weise erzählt Turist von den Rückkopplungen, die Risikoprävention in der Gesellschaft erzeugt. In dem edlen Wintersportquartier, dem Schauplatz von Ruben Östlunds Film, ist alles reguliert: ein „safe environment“ für die betuchte Mittelklasse. Von den Pistenraupen und Schneemaschinen führt seine Montage direkt zu den elektrischen Zahnbürsten der Familie. Doch die Lawine erzeugt Risse im Selbstverständnis des Paares. In den Augen der Frau hat der Mann versagt. Präzise und komisch führt uns Turist in erzählerischen Vignetten vor, wie schnell sich Verunsicherung ausbreitet, wenn die Realität von draußen anklopft.
Turist ist beim 67. Filmfestival von Cannes in der Sektion Un certain regard gelaufen, wo er mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Er hätte auch gut in den Wettbewerb gepasst, doch dieser ist an der Croisette immer noch stark dem Prinzip der Meisterklasse verpflichtet: ein Klub, zu dem nur wenige Privilegierte dazugehören, die dafür ein Leben lang. Entsprechend dominant sind die Altmeister: Jean-Luc Godard ist 83, Ken Loach 77, Mike Leigh und David Cronenberg sind auch schon 71 Jahre alt.
Cronenberg hat mit Maps to the Stars den bitterbösesten Film aller Zeiten über Hollywood gedreht. US-Schriftsteller Bruce Wagner (Wild Palms), selbst einmal Limousinenfahrer für Stars, hat das Drehbuch geschrieben. Den Figuren dichtet er zahllose mentale Störungen an. Inzest, Mord und Perversionen: You name it, they got it.Cronenbergs eisig-klare Regie porträtiert die Traumfabrik als vulgäre Vorhölle. Julianne Moore, in Cannes mit dem Schauspielerinnenpreis prämiert, ist als Diva, die für eine Rolle alles tut, schlicht umwerfend.
Amour fou mit ADHS
Olivier Assayas lieferte mit Clouds of Sils Maria dazu den merkbar entspannten Komplementärfilm. Auch der Franzose blickt hinter die Vorhänge des Showgeschäfts und erzählt von der Schauspielerin Maria Enders (Juliette Binoche), die sich ihrer Vergangenheit und ihrem Alter stellt. Der Film begleitet die Aktrice in die Schweizer Berge, wo die Vorbereitung auf eine Rolle zur Belastungsprobe gerät. Assayas reflektiert hier auch die vielen Facetten der Binoche. Das sind aber nicht die einzigen Ebenen dieses gescheiten Films. In der Figur der jungen Assistentin der Schauspielerin, die Twilight-Star Kristen Stewart cool unterspielt anlegt, veranschaulicht er auch pointiert zeitgenössische Arbeitsbedingungen.
Mit jüngeren Regisseurinnen und Regisseuren wie Xavier Dolan, Alice Rohrwacher (Le meraviglie) und Bertrand Bonello (Saint Laurent) hat man in diesem Jahr zumindest begonnen, den Wettbewerb beweglicher zu gestalten. Die Jury unter Jane Campion hat auf dieser Durchmischung der Generationen mit einem geteilten Preis beharrt: Mommy des 25-jährigen Kanadiers Xavier Dolan, ein ungestümes Drama, das für Begeisterung sorgte, wurde gemeinsam mit Jean-Luc Godards 3-D-Film Adieu au langage ausgezeichnet. Dolan presst seine Amour fou über einen unter ADHS leidenden Jugendlichen und seine nicht viel weniger lebhafte Mutter in das Format eines Smartphones. Die Leinwand wird zum Hochformat. Dies soll die Pattsituation der beiden aufeinander angewiesenen Figuren beschreiben, für die Dynamik der Geschichte erweist sich die Idee jedoch eher als Hindernis, weil Gefühle eben immer auch einen Gegenraum benötigen.
Godard wiederum zerlegt im denkerisch freiesten Film des Festivals das Kino munter weiter und kommt auf den Hund, um die Dinge neu zu betrachten. Eine Mann-Frau-Trennungsgeschichte liefert den abstrakten Rahmen des Films. Godard geht es um die Überwindung eingeübter Blickweisen, der Hund wird ihm dabei zum Gefährten – ein Tier, das den Kampf der Geschlechter (und andere Differenzen) aufhebt, weil es seinen Blick für natürlich nimmt. Adieu au langage beklagt den Niedergang der Filmsprache nicht, sondern beschreibt technologische Übergänge, kulturelle Umbrüche: iPhones, die Bücher bedrängen; Flatscreens, die die Leinwand in die Welt hinaustragen. Godards Einsatz von 3-D zeugt von ungebrochener Energie: Mitunter trennen sich die Bilder voneinander, ein Effekt, der sich anfühlt, als schiele man.
Die Goldene Palme schließlich für Nuri Bilge Ceylans elegisches Drama Winter Sleep war eine gute Wahl, obwohl sie sich in diesem Jahr des Übergangs – auch Cannes-Präsident Gilles Jacob tritt ab – wie ein Schrei nach klassischer Qualität anhört. Ceylan arbeitet mit einer literarischen Verdichtung, die keiner formalen Kunstsprünge bedarf. Die erzählerische Ökonomie ist makellos. Die Figuren, ein älterer Schauspieler, seine Frau und seine Schwester, wirken in ihrer Unrast vielschichtig wie richtige Menschen. Hinter ihrer Besonnenheit treten Kleinmut, Angst und Trauer über Versäumtes zutage. Wie Ceylan dies ans matte Winterlicht holt, ist große Kunst.
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