Empfindsame Männer

Festival In Toronto holen sich die Filme Schwung für die Oscar-Verleihung, zum Beispiel „Moonlight“
Ausgabe 38/2016

Gern wird die zeitliche Nähe der Festivals von Venedig und Toronto als Duell ausgelegt. In Wirklichkeit haben sie jedoch eine gemeinsame Mission: aus einem immer umfassenderen Angebot jene Produktionen herauszusieben, die die nächsten paar Monate bestimmen. Beim traditionellen Venedig liegt die Aufmerksamkeit auf dem Wettbewerb und der Akzent auf künstlerischem Anspruch. In Toronto geht es marktwirschaftlicher zu, es gibt etliche Parallelschienen an Programm und hin und wieder einen buzz. Dann ist es einem Film gelungen, viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Bei den Herbstfestspielen holen sich Filme den Schwung, der sie im besten Fall bis zu den Oscars trägt.

Der Goldene Löwe aus Venedig wiegt dagegen für den philippinischen Regisseur Lav Diaz viel, denn in Toronto, wo The Woman Who Left in der handverlesenen Sektion „Wavelength“ lief, kann er nicht das gleiche symbolische Kapital generieren. Dabei ist der Film mit vier Stunden für Diaz’ Verhältnisse relativ kurz dimensioniert. Einen Programmer veranlasste das zu einem Gag: „Lav is selling out.“ (Lav macht’s zu billig.) In Wahrheit wollen manche Kritiker dem Regisseur den Erfolg nicht gönnen. Er sei ein Festivalphänomen, sagen sie, die Filme würden das Publikum verfehlen. Dasselbe könnte man gegen bedeutende Romane sagen, die mehr als 1.000 Seiten füllen.

Auf Festivals geht es immer auch darum, was Festivals leisten. Im besten Fall zeigen sie Filme, die auf unsere Kultur zurückwirken und deren Einbahnstraßen anzeigen. Ein solcher Film, der aufgrund seines kritischen Auges für Geschichtsvermittlung dies- und jenseits des Atlantiks für Debatten sorgte, war Sergei Loznitsas Austerlitz.

In statischen Aufnahmen filmt der Regisseur Besucherkolonnen, die mit Fremdenführer oder Audioguide durch die Gedenkstätte Sachsenhausen ziehen und dabei für Selfies posieren. Das KZ als Touristenattraktion wiegt Loznitsa mit der Barbarei der Vergangenheit ab, wenn er raffiniert die Geschichte der Internierten in Erinnerung ruft. Austerlitz fragt, ob mit dem Selbstauslöser das Vergessen aktiviert wird.

Einen anderen Weg der (Gegen-)Geschichtsvermittlung schlägt der haitianische Regisseur Raoul Peck in I Am Not Your Negro ein. Anhand eines unvollendet gebliebenen Texts des 1987 verstorbenen US-Schriftstellers James Baldwin führt er mit beeindruckend verdichtetem Archivmaterial durch die Zeit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und zeigt die Kontinuität des Rassismus bis in die Gegenwart auf. Der von Samuel L. Jackson gesprochene, aufrüttelnde Text, der sein Echo in Essays von Ta-Nehisi Coates findet, betreibt auch Repräsentationskritik. Mit Beispielen aus Hollywoodfilmen demonstriert er, wie sich ein Heldenbild durchgesetzt hat, das sich vor allem an ein weißes Publikum richtet.

In diesem Zusammenhang fiel Moonlight, dem zweiten Spielfilm von Barry Jenkins, in Toronto der Status „Film der Stunde“ zu. Es handelt sich um einen introvertierten Film, der in drei Kapiteln – basierend auf Tarell Alvin McCraneys Theaterstück In Moonlight Black Boys Look Blue – von der Entwicklung eines sensiblen Jungen zum zerbrechlichen Mann erzählt. Chiron kommt aus ärmlichen Verhältnissen in Miami, aus einem sozialen Umfeld, von dem es heißt, dass es formt. Doch Chiron ist anders: ausweichend, empfindsam, aufgeschlossen. Eine Ausrichtung zur Welt, die der Film in lichtintensiven, haptischen Bildern auffängt. Bei Chirons erstem Schwimmversuch im Meer füllt sich die halbe Leinwand mit Wasser an.

Moonlight erzählt davon, wie sich ein Außenseiter in einer Gesellschaft behaupten muss, in der mit übermaskulinem Gangsterhabitus Schwächen kaschiert werden. Jenkins greift ein Repräsentationsdilemma auf, das für die afroamerikanische Community eminent politisch ist. Ohne Themenfilm zu sein: Moonlight ist ein Werk der schrägen Gefühlslagen, in dem das Drängen eines Verlangens, einer Sehnsucht und eine große Lücke greifbar werden. Von Moonlight wird man noch einiges hören.

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