Transzendenz wagen

Cannes Weniger Stars, aber frischeres Autorenkino: Das Festival hat sich erneuert
Ausgabe 21/2018

Zu Beginn des 71. Filmfestivals von Cannes wurde wieder einmal der Teufel an die Wand gemalt. Die Debatten um Geschlechtergerechtigkeit und Missbrauchsskandale in der Filmbranche bestimmten die Medienberichte, der Konflikt mit Netflix, das sich beleidigt zurückzog, überschattete die Filmauswahl. In den ersten Festivaltagen kamen die Unkenrufe der US-Filmbranche hinzu, die dem Treiben an der Croisette ein Ende des alten Glanzes bescheinigen wollten. Zu wenig Stars am roten Teppich! Zu wenige Publicity-Stunts!

Und die Filme? Über die wollte zuerst niemand reden. Dabei hatten Thierry Frémaux und seine Kuratoren den Wettbewerb endlich ein wenig durchlüftet. Zum Beispiel mit dem Japaner Ryusuke Hamaguchi, dessen Asako I & II eine eigenwillige, manische Liebesgeschichte um eine Frau zwischen zwei Männern erzählt. Oder mit US-Regisseur David Robert Mitchell (It Follows): Seinen spleenigen Under the Silver Lake beschreibt man am besten als Kiffer-Neo-Noir für die Millennials-Generation.

Es lag nicht an diesen beiden, erfrischenden Arbeiten, dass das Fazit bei vielen Cannes-Besuchern versöhnlich ausfiel. Denn trotz der dringlichen und ungelösten außerfilmischen Debatten überzeugte das Festival zuletzt in seiner Kernfunktion: als Bühne für aufregende und künstlerisch beeindruckende Filme. Stärker als in den vergangenen Jahren fokussierte man dieses Jahr wieder auf Autorenkino, vergrößerte die Diversität. Das ist schon deshalb eine richtige Korrektur, weil eigenwillige, weniger starträchtige Filme die Festivalöffentlichkeit am dringlichsten brauchen.

Gewiss, bei der Anzahl der Regisseurinnen herrscht weiterhin Nachjustierungsbedarf. Mit Alice Rohrwachers großartigem Lazzaro felice gab es aber immerhin einen Film, dem man die zweite Goldene Palme der Festivalgeschichte für eine Frau gewünscht hätte. Es ist ein Film mit Sinn für Wunder – umgesetzt mit wachem Auge für jene Widersprüche, vor denen wir alle gern die Augen verschließen.

Poesie der Auslassungen

Rohrwacher setzt im Geiste von Pasolini auf die Kraft des Fabulierens, um eine Tabakplantage, die immer noch wie ein feudaler Betrieb geführt wird, mit der postindustriellen Ödnis moderner Großstädte in Verbindung zu setzen. Mehr noch als in Arbeiten wie Land der Wunder (2014) überhöht die Italienerin dabei eine realistische Erzählung mit volkstümlichen Elementen.Wie sein biblischer Namensgeber durchwandert Lazzaro (Newcomer Adriano Tardiolo), ein Totgeglaubter, der wiederaufersteht, die tristen Nischen der Gegenwart und entdeckt, dass zu den alten Hierarchien neue hinzugekommen sind.

Rohrwacher steht für eine erfreuliche Tendenz an Filmen, die dem auf Festivals geeichten Sozialrealismus (exemplarisch in Nadine Labakis mit dem Preis der Jury geadelten Straßenkinder-Rührstück Capharnaüm) die Kunst der Überschreitung, eine Transzendenz entgegensetzen. Man findet sie auch in Ulrich Köhlers In My Room. In den ersten vierzig Minuten des Films erleben wir seinen Helden Armin (Hans Löw) als zivilisationsmüden Everyman, so unaufgeweckt und schlapp, dass er eine junge Frau gleich wieder aus seiner Wohnung vertreibt. Als er eines Tages an einer Tankstelle stehen bleibt, sieht es so aus, als hätten alle die Flucht ergriffen. Nicht nur dort: Niemand ist in den Supermärkten, niemand auf den Straßen.

In Köhler lauerte schon immer der Surrealist der Berliner Schule. Diesmal treibt ihn die Sehnsucht nach einer Utopie zu einer realistischen Parabel. Vermittelt, nie überdeutlich klingen in diesem Gegenentwurf große Fragen an: Wie viel vom Alten steckt in einem Neuanfang? Was ist Freiheit? Für Armin wird die nie näher bestimmte Katastrophe zu einer Chance auf eine Veränderung. Die intellektuelle Spannung des Films liegt jedoch darin, dass beide Teile stets miteinander im Dialog bleiben.

Gesellschaftliche Gefüge durch Perspektivenwechsel infrage zu stellen, gelang vor allem den Präzisionsarbeiten aus Asien. Hirokazu Kore-eda wurde für sein fein gewobenes Drama Shoplifters verdient mit der Goldenen Palme prämiert. Der Japaner radikalisiert darin Themen um atypische soziale Formationen, die ihn seit jeher bewegen. Mit Witz und Empathie beschreibt er das Miteinander einer Familie, in der niemand mit dem anderen verwandt ist: Ausgestoßene, Diebe, gestohlene Kinder.

Der Coup des Films liegt darin, dass die Fürsorge, die dieses Lumpenproletariat füreinander aufbringt, gängigen familiären Modellen (und ihren Leerläufen) oft überlegen scheint. Kore-eda entdeckt mithin dort, wo es niemand vermuten würde, einen Moment der Utopie. Er braucht dafür nichts beschönigen, denn von einer heilen Welt bleibt Shoplifters weit entfernt.

Jia Zhang-ke oder der Koreaner Lee Chang-dong arbeiten stärker mit einer Poesie der Verknappung, einer gerne vernachlässigten Geheimkraft des Kinos. Jias Ash is the Purest White mag auf den ersten Blick wie ein Medley seiner früheren Filme über den rasenden Wandel wirken. Elliptisch, konzentriert und komisch zugleich zeigt er, wie seine Hauptfigur, Qiao (Zhao Tao), mit äußeren Entwicklungen nicht Schritt halten kann – und doch nie aufhört, Widerstand zu leisten. Lees Burning (der Film mit den besten Kritiker-Votings) überträgt eine kurze Erzählung von Haruki Murakami auf kluge Weise nach Südkorea. Die Dreiecksgeschichte um einen Möchtegernautor, einen neureichen Emporkömmling und eine Frau wird zu einem Irrspiel um falsche Zeichen: ein Zeitlupenthriller, der eigentlich von sozialer Kälte und Ressentiments erzählt. Virtuos, wie er auf kleiner Flamme dahinglimmt, bis am Ende einer Feuer fängt.

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