Ein Drittel Tyrannei, zwei Drittel Vernunft

Corona Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, schwadroniert von einer „Tyrannei der Ungeimpften“. Und unser Autor fragt sich: Warum redet der Mann über etwas, wovon er nichts versteht?
Frank Ulrich Montgomery – Arzt, kein Ideengeschichtler
Frank Ulrich Montgomery – Arzt, kein Ideengeschichtler

Foto: Imago/Jürgen Heinrich

Der Tenor der vergangenen Monaten war eindeutig: Wenn man nicht mindestens an irgendeinem medizinischem Institut den Fachbereich „Immunologie“ leitet, dann soll man bitte die Klappe halten in Sachen Impfung. Wer sich seines eigenen Verstandes bedienen wollte – Sapere Aude! –, der war schnell in der Schmuddelecke: zusammen mit Joshua Kimmich, Sahra Wagenknecht und Richard David Precht. Und wer will da schon hin, zu den „Unvernünftigen“, den Fußballern, Politikerinnen und Philosophen, die keine Ahnung von Impfstoffen haben, sich aber trotzdem über Nebenwirkungen und Langzeitschäden auslassen?

Jetzt würde ich mir auch nicht anmaßen, über medizinische Sachverhalte zu fachsimpeln. Aber: Wer die Leute hierzulande millionenfach mit Vakzinen gegen Corona immunisieren will, der wird mit Widerspruch vonseiten der für die Impfung vorgesehenen Menschen zurecht kommen müssen. Deren Körper gehören nicht dem Staat. Zumindest noch nicht: Das Bundesverwaltungsgericht hat schon 1959 entschieden, dass eine Impfpflicht prinzipiell mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Und die Rufe nach ihr werden lauter.

„Tyrannei der Ungeimpften“

Zum Beispiel in der Talkshow Anne Will, wo Frank Ulrich Montgomery, seines Zeichens Vorsitzender des Weltätztebundes, davon sprach, dass eine Impfpflicht in „absehbarer Zeit“ notwendig werden könnte. In Portugal, wo 97 Prozent der Bevölkerung immunisiert seien, gebe es die ganzen „einschränkenden Maßnahmen“ nicht mehr. „Die freie Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, hat einen Effekt auf andere.“ Klar, denkt man da, der Mann weiß schon, wovon er redet, immerhin hat Montgomery in Hamburg und Sydney Medizin studiert. Wird schon stimmen, dass mehr Impfungen unseren Alltag entspannter machen würden.

Aber als der Arzt anfing über gesellschaftliche Zusammenhänge zu reden, wurde es mindestens so peinlich wie letzte Woche, als Wagenknecht in derselben Talkshow übers Dengue-Fieber schwadronierte. Denn Montgomery sprach weiter von einer „Tyrannei der Ungeimpften“, da letztere das Leben jener 67 Prozent ruinieren würden, die geimpft seien. Im Ernst? Tyrannei? „Ich benutze bewusst diesen Begriff“, so Montgomery auf Nachfrage der Moderatorin.

Ich nehme es dem 69-Jährigen nicht krumm, dass er ein Drittel der Bevölkerung mal eben als Tyrannen abstempelt. Auch ich habe schon schlimme Dinge über die deutsche Gesellschaft gesagt (und geschrieben). Was ich ihm aber übel nehme, ist, dass er einen Begriff wie „Tyrannei“ bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Und weil es so schön ist, das mal umzudrehen, frage ich: Was nimmt der Mediziner sich eigentlich raus, über etwas zu reden, wovon er offensichtlich so wenig versteht? Warum überlässt er das nicht uns, den Gesellschaftswissenschaftlern?

Vielleicht mal Boétie lesen?

Salvatorische Klausel: Ich habe Politische Ideengeschichte studiert, in London und Berlin – und, tja, wenn Montgomery laut über Tyranneien nachdenkt, wird mir blümerant! Aristoteles beschreibt die Tyrannei als Alleinherrschaft eines Despoten oder die Unterdrückung des Einzelnen durch ein Kollektiv. Ganz allgemein gesprochen hat Tyrannei etwas mit Gewalt- und Willkürherrschaft zu tun. Was sie aber auf gar keinen Fall ist: ein Unterlassen. Sich nicht zu impfen, kann man unsolidarisch, dumm oder sonstwie nennen. Tyrannisch ist es nicht.

Tatsächlich gibt es sogar einen Philosophen, der wie kein anderer den Gegensatz von Nicht-Handeln und Tyrannei betont hat: der französische Anarchist Étienne de La Boétie (1530-1563). In seiner Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft heißt es: „Noch dazu steht es so, daß man diesen einzigen Tyrannen nicht zu bekämpfen braucht; man braucht sich nicht gegen ihn zur Wehr zu setzen; er schlägt sich selbst. Das Volk darf nur nicht in die Knechtschaft willigen; man braucht ihm nichts zu nehmen, man darf ihm nur nichts geben; es tut nicht not, daß das Volk sich damit quäle, etwas für sich zu tun; es darf sich nur nicht damit quälen, etwas gegen sich zu tun.“

Wer es also unterlässt, seinen Pflichten für den Tyrannen nachzukommen, schwächt ihn: Ohne das Hinzutun der Bevölkerung ist die Schreckensherrschaft am Ende. Aussagen wie die von Montgomery versuchen dieses Paradigma umzudrehen: Gewalt geht jetzt von den lethargischen „Ungeimpften“ aus. Nicht die Regierung, welche die Menschen zwingt, sich eine Flüssigkeit in den Körper spritzen zu lassen (ja, eine potenziell lebensrettende Flüssigkeit, relax!), wird als übergriffig betrachtet, sondern derjenige, der da nicht mitmachen will: Der ist der Tyrann, einer, von dem eine Gefahr für die öffentliche Ordnung ausgeht. Und dann? Tyrannenmord?

Die Medizin verlangt von uns, mit ihren Fachtermini vorsichtiger umzugehen. Vor ein paar Tagen monierte Christian Drosten noch, dass die Begriffe in letzter Zeit durcheinander geraten“ – und erklärte dann, was das Wort „Impflücke“ wirklich bedeutet. Ob das auch umgekehrt funktioniert und wir Ärzten wie Montgomery beibringen können, ein bisschen bedachter mit politischen Vokabeln um sich zu werfen?

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Dorian Baganz

Redakteur „Politik“, „Grünes Wissen“, „Social Media“

Dorian Baganz, geboren 1993 in Duisburg, studierte Politik und Geschichte in London, Berlin sowie in Oslo. 2019 war er als Lokalreporter für die Süddeutsche Zeitung im Umland von München tätig. Seit 2022 ist er Redakteur beim Freitag und schreibt dort vornehmlich über Klimathemen und soziale Umbrüche. Gemeinsam mit Pepe Egger baute er ab 2022 das Nachhaltigkeitsressort „Grünes Wissen“ auf. Dort veröffentlichte er längere Reportagen u.a. über geplante Gasbohrungen vor Borkum oder ein Wasserstoffprojekt in der Nordsee.

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