„Es kann jetzt jeden treffen“

Interview Der Polizeistaat ist schon Realität, sagt Jurist Christian Mertens. Und dass Kapitalismus das Verbrechen fördert
Ausgabe 34/2018

Eigentlich sollte das neue Polizeigesetz in Nordrhein-Westfalen schon im Sommer verabschiedet werden. Nach massiver Kritik von Strafrechtsexperten und Datenschützern hat Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) die Beratung im Landtag auf den Herbst vertagt. Der Jurist Christian Mertens kämpft gegen das Gesetz.

der Freitag: Herr Mertens, unter Rot-Grün gab es in Nordrhein-Westfalen keine Schleierfahndung, trotz des Drucks der Union im Bund. Jetzt regiert die CDU mit einer FDP, die vor der Wahl bekundet hat, gegen anlasslose Überwachung zu sein. Kommt die Schleierfahndung mit dem neuen Polizeigesetz von Schwarz-Gelb?

Christian Mertens: Es wird sie geben, man hat sich nur nicht getraut, sie so zu nennen. Die FDP hat eine sogenannte strategische Fahndung durchgesetzt, die letzten Endes auf das Gleiche hinauslaufen wird wie eine Schleierfahndung. Wen wird die Polizei vornehmlich auf dem Schirm haben? Natürlich „Terroristen, rumänische Wohnungseinbrecher, Migranten“ – also die ach so gefährlichen Ausländer. Da ist Racial Profiling Tür und Tor geöffnet. Und das alles ohne jegliche Grundlage, ohne konkreten Verdachtsmoment.

Aber der Protest richtet sich hauptsächlich gegen den Begriff der „drohenden Gefahr“?

Ja. Bisher darf die Polizei bei einer konkreten Gefahr eingreifen. Es ist zwar eine Binsenweisheit, aber Gefahr bedeutet nicht etwa, dass etwas passiert ist. Dann würde man von „Schaden“ sprechen. Gefahr heißt, dass möglicherweise etwas passieren wird, wenn man nichts tut. Und drohende Gefahr wiederum heißt, dass vielleicht irgendwann in der Zukunft mal eine Situation eintritt, wo etwas passieren könnte, falls alles so weiterläuft. Alles höchst schwammig. In meinen Vorträgen fordere ich die Leute immer auf, sich den Paragrafen anzuschauen und zu überlegen, ob sie sicher sein können, davon nicht betroffen zu sein. Ergebnis: Das kann keiner.

Christian Mertens , 39, ist Rechtsanwalt und Strafverteidiger in Köln. Er engagiert sich unter anderem bei Amnesty International und dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein. Christian Mertens gehört dem Bündnis „Nein zum neuen Polizeigesetz NRW“ an

Da weisen Sie auch darauf hin, dass die Polizei präventiv oder repressiv handeln kann. Das heißt, sie wird vor einer Straftat tätig, um sie zu verhindern, oder sie bemüht sich danach um Aufklärung. Das Polizeirecht sei präventiv, sagen Sie. Ist das so schlimm?

Prävention ist natürlich nicht grundsätzlich schlecht. Ich hätte nichts dagegen, wenn der Gesetzgeber nach ganz klaren Kriterien präventiv handeln würde. Als Strafverteidiger würde ich mir sogar oft wünschen, dass die Polizei meinen Mandanten nicht erst 15 oder 20 Taschendiebstähle begehen lässt, um eine höhere Bestrafung zu ermöglichen, sondern bereits den zweiten unterbindet. Einen pejorativen Beigeschmack bekommt Prävention immer dann, wenn unglaublich scharfe Maßnahmen daran geknüpft sind. Zum Beispiel Freiheitsentziehung, Hausarrest, Fußfesseln …

Und das Mitlesen von Nachrichten in Messenger-Diensten?

Richtig, das ist die „Quellen-Telekommunikationsüberwachung“, von der so oft die Rede ist. Dabei gibt es die Möglichkeit zur maßvollen Prävention bereits: Im Juristenjargon ist dann vom „Gefahrenerforschungseingriff“ die Rede. Das heißt, Behörden haben schon jetzt die Möglichkeit, nachzuforschen, wenn sie unsicher sind, ob etwas passieren wird. Jetzt will man einen Schritt weitergehen und jeden einsperren können, den man für potenziell gefährlich hält.

Aber dafür wurde die CDU in Nordrhein-Westfalen gewählt, oder? „Mehr Polizei“ stand auf den Wahlkampfplakaten.

Für mich ist das ein Anzeichen für den allgemeinen Rechtsruck im Land. Da wird immer wieder ein „Wir“ gegen „Die“ aufgebaut.

Das klingt wie in einem Roman von George Orwell.

Oder einer beliebigen anderen Dystopie. Das Neue an diesen Polizeigesetzen ist nur, dass „Wir“ und „Die“ jetzt verschwimmen. Es kann jeden treffen. Stichwort: Festnahme in Bayern. Da soll jemand „Stoppt den AfD-Parteitag!“-Aufkleber auf Häuser geklebt haben, und zwei Tage vor jenem Parteitag kassiert man ihn ein, setzt ihn so lange ins Gefängnis, bis die Veranstaltung der AfD wieder vorbei ist. Das ist unser Umgang mit Demokratie und Meinungsfreiheit.

In Bayern wurden die polizeilichen Befugnisse bereits massiv ausgeweitet. Folgt NRW mit seinem Polizeigesetz diesem Pfad?

Na klar. Außer in Thüringen werden in allen Bundesländern die Polizeigesetze verschärft.

Bewegen wir uns gerade eigentlich in Richtung eines Polizeistaats?

Nein. Wir sind schon da! Wenn Sie einen Polizisten anzeigen, wird das mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg haben. Polizisten sind geschützter als normale Bürger. Da versagt der Rechtsstaat teilweise. Staatstheoretisch ist es vollkommen vertretbar, dass man der Polizei mehr Rechte gibt als anderen – nehmen Sie zum Beispiel die Ausübung von Gewalt. Kritisch wird es, wenn die Polizei Rechte bekommt, die sie ohne effektive richterliche Kontrolle ausüben kann.

Aber Kontrollmechanismen werden hierzulande schwächer. Ich denke an die NSA-Selektorenliste, in die der NSA-Untersuchungsausschuss keinen Einblick hat – mit Unterstützung aus Karlsruhe.

Vollkommen richtig. Das Bundesverfassungsgericht hat hier entschieden, dass die geheimdienstliche Zusammenarbeit Deutschlands mit anderen Ländern so überragend ist, dass dafür leider die Parlamentsrechte etwas beschnitten werden müssen. Das nennt man dann Exekutivstaat. Und ein Exekutivstaat ist ein Polizeistaat.

Reichen die bestehenden Bestimmungen denn aus, um die öffentliche Sicherheit zu garantieren?

Vor Gericht würde ich diese Frage als Suggestivfrage zurückweisen. Denn ihr ist ja schon die Behauptung inhärent, dass die neuen gesetzlichen Regelungen in irgendeiner Weise besser sind als die bestehenden. Aber die Wahrheit ist doch, dass keiner weiß, ob sie Straftaten verhindern werden. Diese werden nämlich zu 90 Prozent begangen, weil die Menschen arm sind. Wer bei dm klaut, tut das nicht für den Kick. Wer Hartz-IV-Betrug begeht, sucht nicht nach einem Abenteuer, weil die Tagesschau so langweilig ist. Millionen von Menschen im Land sind vom gesellschaftlichen Leben abgekoppelt. Die wichtigsten Gründe für Straftaten sind Armut und Habgier. Wer wirklich etwas gegen Kriminalität tun will, sollte hier ansetzen. Stattdessen verschärft man irgendwelche Polizeigesetze und beschränkt die Freiheit der Bürger.

Auf Ihrer Homepage steht der berühmte Satz von Thomas Mann: „Die Freiheit darf nicht an ihrer Verteidigung sterben.“

Und er dürfte angesichts der Ägide unseres Grundgesetzes selbsterklärend sein. Doch wenn jemand wie Innenminister Herbert Reul sagt, dass Freiheit und Sicherheit vereinbar seien, dann ist das schlicht und ergreifend falsch. Alle Gesetze, die dem Staat Eingriffe in die Freiheit des Bürgers erlauben, begrenzen logischerweise die Freiheit für den Bürger. Es geht gar nicht anders. Es gibt keine Überschneidungsfläche, keine Freiheit des Bürgers, in die gleichzeitig der Staat eingreifen darf. Weil Staatseingriffe nie freiheitsfördernd, sondern immer freiheitsbeschränkend sind. Entweder weiß Reul nicht, was er sagt – oder er sagt nicht, was er weiß.

Nach seiner Kritik am Gerichtsurteil zur Abschiebung von Sami A. hat sich sogar die Kanzlerin von Reul distanziert. Wie bewerten Sie seine Entschuldigung?

Herr Reul hat weder eine juristische Grundausbildung noch ist das sein Ressort. Dann auf Rechtsbegriffe nahe dem Nationalsozialismus zu rekurrieren, halte ich für – gelinde gesagt – mutig. Und welche Entschuldigung meinen Sie? Gezielt eine unglaubliche Entgleisung platzieren und dann sagen, die habe missverstanden werden können? Das ist doch keine Entschuldigung, im Gegenteil. Nein, ich denke, es wurde genau so publiziert und verstanden, wie es gemeint war. Und das als Verfassungsminister.

Als Grund für die Reformen der Polizeigesetze hört man von Politikern, sie seien verpflichtet, die Änderungen der EU-Datenschutzgrundverordnung oder das sogenannte BKA-Urteil zur informationellen Selbstimmung aus Karlsruhe umzusetzen.

Das Polizeigesetz, gegen das unser Bündnis streitet, hat mit Datenschutz nichts zu tun. Es gibt ein zweites Gesetz zur Reform des Polizeigesetzes, das gerade im nordrhein-westfälischen Parlament ist, das den Datenschutz implementiert. Dagegen protestieren wir noch gar nicht. Und zum BKA-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Auch wenn Politiker gerne etwas anderes behaupten, ist es nicht so, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber vorgibt, welche Gesetze er erlassen soll. Das BVerfG prüft, ob neue oder bestehende Gesetze verfassungskonform sind.

Stellen wir uns vor, Sie wären Politiker. Wie würden Sie mit dem Thema umgehen?

Diese Frage habe ich mir auch schon einmal gestellt. Und wahrscheinlich würde ich den aktuellen Gesetzeszustand so belassen, wie er ist. Bodo Ramelow macht das in Thüringen ja vor. Und ich würde mir überlegen, ob es nicht sinnvoller ist, an anderer Stelle aufzurüsten. Zum Beispiel bei der Beseitigung wirtschaftlicher Ungerechtigkeiten. Wie gesagt, das wäre auch als Präventionsmaßnahme gegen Straftaten deutlich effektiver. Von mir aus müssen wir in ein paar Jahren überhaupt nicht mehr im Kapitalismus leben.

Befördert der Kapitalismus denn Straftaten?

Ja, klar. Die meisten Straftatbestände im Strafgesetzbuch dienen dazu, das bestehende System zu erhalten. Und wenn das Geld nur in eine Richtung wandert, es aber von allen gebraucht wird, dann können Sie sich ja fragen, was jene Menschen machen, denen es regelmäßig ausgeht.

Das Gespräch führte Dorian Baganz

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Dorian Baganz | Dorian Baganz

Redakteur „Politik“, „Grünes Wissen“, „Social Media“

Dorian Baganz, geboren 1993 in Duisburg, studierte Politik und Geschichte in London, Berlin sowie in Oslo. 2019 war er als Lokalreporter für die Süddeutsche Zeitung im Umland von München tätig. Seit 2022 ist er Redakteur beim Freitag und schreibt dort vornehmlich über Klimathemen und soziale Umbrüche. Gemeinsam mit Pepe Egger baute er ab 2022 das Nachhaltigkeitsressort „Grünes Wissen“ auf. Dort veröffentlichte er längere Reportagen u.a. über geplante Gasbohrungen vor Borkum oder ein Wasserstoffprojekt in der Nordsee.

Dorian Baganz

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