Falsche Prioritäten

Protest In Frankreich wird wieder protestiert. Eine beneidenswerte politische Kultur. In Deutschland enthusiasmiert indessen ein bitterböser Affront die Menschen

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Falsche Prioritäten

Bild: THOMAS SAMSON/AFP/Getty Images

Wir alle sind aufgerufen, unsere Gesellschaft so zu bewahren, dass wir auf sie stolz sein können: nicht diese Gesellschaft der in die Illegalität Gedrängten, der Abschiebungen, des Misstrauens gegen Zuwanderer, in der die Sicherung des Alters, die Leistungen der Sozialversicherung brüchig geworden sind, in der die Reichen die Medien beherrschen“, schrieb Stéphane Hessel wenige Jahre vor seinem Tod in dem Essay ‚Empört Euch‘. Heute, knapp sechs Jahre später, sind die Franzosen mal wieder auf der Straße. ‚Nuit debout‘ nennen sie sich. Sie demonstrieren nicht nur gegen geplante Arbeitsmarktreformen, sie demonstrieren gegen die wachsende Ungerechtigkeit im Land. Im Jahr 2015 besaß das reichste Zehntel dort 51,7% des gesamten Vermögens. En passant sei gesagt, dass die Lage bei uns noch schlimmer ist. Also revoltieren sie gegen einen ‚sozialistischen‘ Staatspräsident, dessen Agens schon lange nicht mehr erkennbar ist. „Auch ich war 20 Jahre alt und habe mich einer Bewegung angeschlossen, weil es Ungerechtigkeiten gab“, sagt Hollande in Hinblick auf ‚Nuit debout‘. Man fragt sich, was dem Mann widerfahren ist, dass er heute eine neoliberale Politik des schlanken Staates vertritt. Philippe Marlière fragte schon 2012 in der britischen Tageszeitung ‚The Guardian‘: „Has François Hollande gone from being Mr Normal to Mr Neoliberal?“ Die Antwort darauf hat im Englischen genau drei Buchstaben. Der Autor sah das damals ähnlich. Und dagegen soll sich das Volk nicht wehren dürfen? Lächerlich. Ein paar Ausschreitungen? Na und? „Eine Revolution ohne Exzesse gibt es nicht“, liest man in einer Kolumne von Jakob Augstein aus dem Jahr 2013. So ist das. Das gilt jedoch nicht nur für die 68er, sondern auch für heutige und künftige Bewegungen.

Es gibt viele Dinge, die die Franzosen gut können. Sie haben nicht nur eine wirklich gute Küche, machen leckeren Wein, bauen großartige Gebäude und fahren sehr gut Fahrrad. Nein, am wichtigsten ist, zumindest zur Untermauerung des Anspruchs auf Volkssouveränität, dass sie es sich nicht nehmen lassen, für ihre Überzeugungen auf die Straße zu gehen. Es gibt wirklich einiges, vor allem be­zie­hent­lich der politischen Partizipation, was jenseits des Rheins besser läuft. Deutschland hingegen steckt in der ‚Böhmermann-Affäre‘. Seit Freitag ist klar: Es wird ein Verfahren gegen den Satiriker Jan Böhmermann geben. Exaltation! In den sozialen Netzwerken heißt es „Je suis Böhmi“. Deutscher Protest findet immer online statt. Aber diesmal darf sogar der Impetus in Zweifel gezogen werden. Braucht der Mann unser Mitleid? Unsere Unterstützung? Ich glaube, beides wäre bei anderen besser aufgehoben. Auch die Bundesrepublik, oben wurde es bereits angerissen, ist ein Land der ungerechten Verteilung. Hier besitzt das reichste Zehntel sogar 63,7% des gesamten Vermögens. Die Gründe dafür auf die Straße zu gehen wären mannigfach. Aber unsere Straßen sind meist leer. Oder besetzt von Rechtspopulisten. Jetzt beschäftigen wir uns mit Böhmermann, der sich geschmacklos und die Grenzen der Satire überschreitend in einem öffentlich-rechtlichen Sender geäußert hat. Es braucht nicht das Wort ‚Ziegenficker‘, um auf unsere Rechtssituation aufmerksam zu machen. In einem internen Brief der ZDF Redakteure steht geschrieben: „Eine ZDF-Sendung bewegt Regierungschefs und ersetzt ein juristisches Proseminar. Programmauftrag erfüllt.“ Wenn ein juristisches Proseminar so abläuft, will man jedem dringend von einem Jurastudium abraten.

Annex: Wir setzen die falschen Prioritäten. Nicht die Causa Böhmermann ist relevant für das Gedeihen eines demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialen Deutschlands. Viel mehr hängt dessen Gelingen von My­ri­a­den von politischen Entscheidungen und Veränderungen ab. Ist unser Land durch ein Verfahren gegen ‚Böhmi‘ in Schieflage geraten? Wohl kaum. Aber Ungerechtigkeit bringt es ins Wanken. Wir entscheiden selbst, welches Thema wir mit Verve diskutieren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dorian Baganz

Redakteur „Politik“, „Wirtschaft“, „Grünes Wissen“

Dorian Baganz, geboren 1993 in Duisburg, studierte Politik und Geschichte in London, Berlin sowie in Oslo. 2019 war er als Lokalreporter für die Süddeutsche Zeitung im Umland von München tätig. Seit 2022 ist er Redakteur beim Freitag und schreibt dort vornehmlich über Klimathemen und soziale Umbrüche. Gemeinsam mit Pepe Egger baute er ab 2022 das Nachhaltigkeitsressort „Grünes Wissen“ auf. Dort veröffentlicht er längere Reportagen, u.a. über geplante Gasbohrungen vor Borkum oder ein Wasserstoffprojekt in der Nordsee.

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