Flutexpertin über das Ahrtal: „Es kann wieder passieren“
Interview Die britische Hydrologin Hannah Cloke sagte die Flut im Ahrtal voraus, bei der im letzten Sommer 135 Menschen gestorben sind. Warum wurde sie von deutschen Behörden ignoriert? Ist der hiesige Katastrophenschutz heute besser aufgestellt?
Das Ahrtal wurde im Sommer 2021 von einem Jahrhunderthochwasser überflutet
Foto: Christoph Hardt/Geisler Fotopress/picture alliance
Ein Jahr nach der Flut im Ahrtal, bei der 135 Menschen starben, Hunderte Häuser weggespült und ganze Dörfer zerstört wurden, ist Hannah Cloke noch immer sehr gefragt. Denn sie sagte die Katastrophe damals voraus. Mit dem Freitag spricht sie darüber, warum ihre Warnungen ignoriert wurden, ob der deutsche Katastrophenschutz nun besser aufgestellt ist – und ob Malu Dreyer (SPD) öffentlich log.
der Freitag: Frau Cloke, Sie haben die deutschen Behörden vier Tage vor der Ahrtal-Flut gewarnt. Was genau haben Sie damals prophezeit?
Hannah Cloke: Ich arbeite mit dem European Flood Awareness System (EFAS) zusammen, das nach dem Elbe-Hochwasser 2002 unter anderem von mir ins Leben gerufen wurde. An dem Wochenende vor der Flut im Ahrtal habe ich mir mit Kollegen
ir ins Leben gerufen wurde. An dem Wochenende vor der Flut im Ahrtal habe ich mir mit Kollegen die Warnhinweise angeschaut. Das System zeigt an, welche Flüsse – oder sagen wir: welche Einzugsgebiete der Flüsse – gefährdet sind. Zu diesem Zeitpunkt waren alle Teile des Rheins als mögliche schwere Hochwassergebiete gekennzeichnet. Deshalb wurden an diesem Wochenende, vier Tage vor der Katastrophe, sogenannte informelle Warnungen herausgegeben. Um darauf hinzuweisen, dass etwas Großes bevorstehen könnte. Spätestens zwei Tage vorher konnte man dann glasklar erkennen, dass die gesamte Region von Sturzfluten bedroht ist. Also hat das EFAS-Team eine Warnung geschickt.An wen genau ging die?Ich glaube, die Behörden der 16 Bundesländer in Deutschland registrieren sich einzeln bei dem System und rufen selbstständig die Informationen ab.Aber schauen Sie mal auf der Website, da sind alle EFAS-Mitglieder aufgelistet.Warum wurde die Warnung ignoriert?Da ist mehr als eine Sache schiefgelaufen. Am wichtigsten ist vielleicht die zu technische Sprache von Meteorologen und Klimawissenschaftlern. Stellen Sie sich ein großes Computer-Modell vor, das Vorhersagen berechnet, die dann an die Menschen vor Ort weitergegeben werden. Da gibt es viele Stufen, wo Informationen verloren gehen können – und gingen. Die Warnung des Deutschen Wetterdienstes war nicht verständlich genug formuliert für die Landräte und Bürgermeister. Es geht also darum, die Informationen so zu übersetzen, dass sich Leute weiter unten in der Befehlskette wirklich veranlasst sehen, zu handeln, zu evakuieren ...Hat Sie je ein deutscher Politiker angerufen und gefragt: Warum hat das nicht geklappt?Ich war bei zwei parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, in NRW und Rheinland-Pfalz. Aber der Punkt ist nicht nur, dass die Warnungen nicht gut übersetzt wurden. Auch als es losging, haben die Leute einfach nicht verstanden, dass sie in Gefahr sind. Sie hatten die Ahr noch nie so hoch steigen sehen und glaubten nicht, dass das jemals passieren würde. Also sind sie in ihren Häusern geblieben.Malu Dreyer, die Ministerpräsidentin von Rheinland Pflalz, hat vor Kurzem in den „Tagesthemen“ gesagt: Die Ahrtal-Flut war eine „Naturkatastrophe“, die niemand kommen sehen konnte. Da wusste ich schon, dass ich Sie heute interviewen würde – jemanden, der es vorhergesagt hat. Lügt Dreyer?Na ja, ich stehe jeden Morgen auf und gucke mir an, wo es auf der Welt zu Flutkatastrophen kommen könnte. Vor ein paar Tagen haben wir die Überschwemmungen in Australien vorhergesagt und davor gewarnt. Aber Politiker sind weniger alphabetisiert in Sachen Naturkatastrophen. Etwas mehr Training für Regierungsangestellte in diesem Bereich wäre sicher eine gute Sache für Deutschland.Ich will nicht beleidigend klingen, aber könnte es nicht auch sein, dass Politiker jede Woche eine Warnung von Wissenschaftlern wie Ihnen kriegen? Und sich irgendwann denken: Wird schon schiefgehen ...Das EFAS ist ein Programm der Europäischen Kommission, nicht von mir. Es hat Fluten in Spanien, Schweden oder auf dem Balkan vorhergesagt. Meine Rolle darin ist winzig. Und das System ist vielleicht nicht perfekt, kein Flutvorhersagesystem ist das – aber es funktioniert.Wenn Sie jetzt, ein Jahr nach der Flut, auf Deutschland schauen, würden Sie sagen, dass die Behörden dazugelernt haben?Die Untersuchungsausschüsse waren sicher eine gute Idee. Ich bin aber maximal besorgt darüber, dass die Menschen im Ahrtal ihre Häuser so ziemlich an denselben Stellen wieder aufbauen, die von der Flut zerstört wurden. Denn es könnte wieder passieren. Gut möglich, dass wir dieses Jahr eine Flut in Deutschland sehen. Vielleicht in einem anderen Tal. Vielleicht im selben. Das Hochwasserrisiko ist dort ja nicht auf magische Weise kleiner geworden. Und jetzt wird da vieles wieder hochgezogen, ohne Vorkehrungen an den Häusern – das erfüllt mich, ja, mit Angst.Nach dem Tsunami von 2011 wurde in Tokio ein Tunnelsystem geschaffen, um Hochwasser abzuleiten. Japanische Schulkinder lernen mithilfe von Virtual Reality, wie man sich bei so einer Katastrophe verhält. Da ist Deutschland weit entfernt?Ja. Es ist enttäuschend zu sehen, dass ein Land wie Deutschland nicht auf Fluten vorbereitet ist.Placeholder infobox-1Was muss passieren? Mehr Sirenen? Mehr Warnapps?Ein guter Vergleich ist der mit dem Feueralarm. So ziemlich in jedem Unternehmen und jeder Schule – eigentlich in jedem öffentlichen Gebäude – wissen die Leute sofort, was zu tun ist, wenn der Feueralarm losgeht. Warum gibt es ein solches System nicht auch bei Fluten und anderen Naturkatastrophen? Hier in Großbritannien geht es schon in die richtige Richtung: Wir haben ein besseres Warnsystem als Deutschland, dazu „Public Awareness Trainings“, wo man lernt, wie man sich in einem solchen Fall verhalten sollte.Wo wird sich die nächste Flut ereignen? Welche Region macht Ihnen am meisten Sorgen?Gerade habe ich eher ein Auge auf die Hitzewelle. Die wird vermutlich mehr Menschen töten als die Flut im Ahrtal letztes Jahr. Hitze ist ein „silent killer“, sagen wir in UK, ein stiller Killer. Fluten sind laut, zerstörerisch, aber Hitze bringt leise die Alten und Vulnerablen um. Das wird dann als „Altersschwäche“ erfasst, dabei sollten wir das besser trennen – besonders, weil es wegen des Klimawandels in Zukunft öfter Hitzewellen geben wird.Wo wird die Hitze am schlimmsten werden?Im Moment blicken wir nach Europa, China und in die USA, wo gerade alle Temperaturrekorde gebrochen werden. Sie wissen bestimmt von Spanien und Portugal, wo über Tage hinweg über 40 Grad waren.Auch in Cottbus wurden im Juni mehr als 39 Grad gemessen.Wenn wir hier in UK über 38 Grad haben, dann tötet das Menschen. Weil wir nicht bereit dafür sind. Es geht nicht nur um die Temperaturen. Es geht auch darum, wo sie gemessen werden. In Großbritannien versuchen wir meist, die Kälte aus unseren Häusern rauszuhalten – es gibt kaum Klimaanlagen in Privathäusern. Aber auf der ganzen Welt sehen wir eine hohe Sterblichkeitsrate wegen Naturkatastrophen. Indien ist zum Beispiel gerade überschwemmt. Deswegen verbringe ich viel Zeit damit, Vorhersagen so zu übersetzen, dass Menschen sie auch verstehen können.
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