Gebot der Stunde

GroKo Nächste Woche findet der SPD-Parteitag statt. Die Genossen müssen sich dann von schwarz-roten Träumereien verabschieden. Sonst ist die Sozialdemokratie bald Geschichte
Noch einmal Große Koalition und die SPD wird entschweben
Noch einmal Große Koalition und die SPD wird entschweben

Foto: Joerg Koch/Getty Images

Die Sozialdemokratie ist nichts für schwache Nerven. Sie ist streitlustig, eine wahre Bühne der Eristik. Ende des 19. Jahrhunderts rang die Partei um die Tauglichkeit des Marxismus in der Praxis und fragte sich, ob man nicht lieber realpolitisch agieren solle, statt vom Klassenkampf und der Abschaffung des Kapitalismus zu träumen. Wenige Jahre später, während des ersten Weltkriegs, stritt man dann über die Bewilligung weiterer Kriegskredite. In einem entschiedenen Aufruf formulierten die drei bedeutenden und eigentlich diametralen Sozialdemokraten Bernstein, Kautsky und Haase: „Hat unsere Partei nicht die Macht, die Entscheidungen zu treffen, so fällt doch uns die Aufgabe zu, als treibendende Kraft die Politik in der Richtung vorwärts zu drängen, die wir als richtige erkannt haben.“ Sie waren gegen weitere Kredite, wollten Eigenständigkeit beweisen. Das war ihr „Gebot der Stunde“.

Klassisches Stockholm-Syndrom

Gibt es auch heute noch solche Gebote? Oder ist der Bundesparteitag, den die SPD nächste Woche in Berlin abhält, nur ein Akklamationsorchester, das die „ergebnisoffenen Verhandlungen mit der Union“ beschließen darf und die einzige Frage ist, wie hoch die Zustimmung zu diesem Kurs sein wird? Die älteste Partei der Bundesrepublik ist in einem desaströsen Zustand. Die Bedeutung ihrer Regierungsbeteiligung im Kontext einer großen Koalition zieht ihre Relevanz nicht aus der Gestaltung der kommenden Legislaturperiode – in der es der SPD vielleicht gelingt, ein paar sozialpolitische Vorhaben voranzubringen – sondern aus der Existenzfrage der deutschen Sozialdemokratie. Es gibt nur wenige Genossen, die das begriffen haben. Marco Bülow gehört dazu. Er warnte schon 2013 vor einer Großen Koalition: „Das Vertrauen, das wir in unserer letzten Regierungszeit verspielt haben, könnten wir nun dauerhaft verlieren. In der neuen Großen Koalition regieren wir nicht auf Augenhöhe mit.“ Das hat sich nicht nur bewahrheitet, sondern potenziert. Wieso begreifen die Genossen das nicht? Denn die meisten Sozis steigen in den „Wir verweigern uns keinen Gesprächen“ - Tenor ein; und bald steht man dann wieder Hand in Hand im Parlament. Klassisches Stockholm Syndrom.

Zerschlagt die schwarz-roten Chimären

Jetzt geht es nur noch um die Bedingungen einer Neuauflage von Schwarz-Rot. Familiennachzug, Bürgerversicherung, Rückkehrrecht von Teil- auf Vollzeit, Investitionen in Bildung, Wohnraum und Breitbandausbau sowie Solidarrente: Das ist die Verhandlungsmasse. Selbst wenn es der SPD gelänge, dieses Programm partiell durchzusetzen, wäre damit nicht viel gewonnen. Die Bundesrepublik gewinnt kurzfristig einen marginal sozialeren Kurs – verglichen mit einer Nicht-Regierungsbeteiligung von Schulz und Co. – und verliert die Sozialdemokratie als langfristige Polit-Option. Das wäre quasi der goldene Schuss. Die Sozialdemokratie lechzt nach der Durchführung von ein paar Reformen und nimmt den eigenen Tod für ihre Verwirklichung in Kauf. Gut, ursprünglich wollten die Genossen nicht regieren. Aber ursprünglich wollten Drogentote auch keine Drogentoten werden. Seit 2005 hat die SPD knapp 15 Prozent an Zustimmung verloren. Das heißt: Sie hat in dieser Zeit fast so viele Wähler verloren, wie sie aktuell noch hat. Ihr Parteitag muss ein Signal in Richtung CDU sein: Nicht mit uns! Es ist ja nicht gerade so, als sei das der Autopilot in teure und (vielleicht) sinnlose Neuwahlen. Sollen doch die Grünen in einer Minderheitsregierung mit der Union ihrem parteipolitischen Ethos nach Pflichtbewusstsein gerecht werden. Und die Genossen stimmen zu, wenn es ihnen passt. Das wäre die logische Konsequenz aus der Lehre der letzten Dekade, denn auch heute – über 100 Jahre nach Bernsteins, Kautskys und Haases Aufruf – hat die Partei nicht „die Macht, die Entscheidungen zu treffen“ aber die „Aufgabe, als treibende Kraft die Politik in der Richtung vorwärts zu drängen, die wir als richtige erkannt haben.“ Die Debattenkultur innerhalb dieser Partei war immer ein Gradmesser ihres demokratischen Impetus. Also nutzt euren Parteitag, streitet, verteufelt euch. Und dann zerschlagt die schwarz-roten Chimären. Das ist das Gebot der Stunde.

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Geschrieben von

Dorian Baganz

Redakteur „Politik“, „Wirtschaft“, „Grünes Wissen“

Dorian Baganz, geboren 1993 in Duisburg, studierte Politik und Geschichte in London, Berlin sowie in Oslo. 2019 war er als Lokalreporter für die Süddeutsche Zeitung im Umland von München tätig. Seit 2022 ist er Redakteur beim Freitag und schreibt dort vornehmlich über Klimathemen und soziale Umbrüche. Gemeinsam mit Pepe Egger baute er ab 2022 das Nachhaltigkeitsressort „Grünes Wissen“ auf. Dort veröffentlicht er längere Reportagen, u.a. über geplante Gasbohrungen vor Borkum oder ein Wasserstoffprojekt in der Nordsee.

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