Gebt dem Markt, was er braucht

Norwegen Unter der Rechtsregierung hat der Wohlfahrtsstaat seine beste Zeit schon lange hinter sich
Ausgabe 30/2018
Teile der Regierung wollen Norwegen zu einem der strengsten Länder machen, was Geldzuwendungen für Migranten angeht
Teile der Regierung wollen Norwegen zu einem der strengsten Länder machen, was Geldzuwendungen für Migranten angeht

Foto: Jonathan Nackstrand/AFP/Getty Images

Eine Frau wird von zwei Mitarbeiterinnen nach draußen begleitet. Sie geht gebeugt, wankt betrunken hin und her. Ihre Haare sind an den Seiten abrasiert. Sie wirkt orientierungslos, während ihre Begleiterinnen versuchen, ihr etwas zu erklären. Einmal schreit sie vor Wut auf, um sich kurz darauf wieder zu beruhigen. Ihr gefällt augenscheinlich nicht, was gerade passiert. Als sich der Streit im Innenhof einer Niederlassung des norwegischen Arbeits- und Sozialamts dem Ende nähert, öffnet sie eine Dose Bier und macht sich auf den Weg. „Skål“ ruft sie den anderen beiden noch zu.

Es sind Menschen wie diese Frau, denen der seit fünf Jahren von rechts regierte norwegische Staat das Leben schwerer macht – während sich die Reichen über Steuerersparnisse freuen dürfen. „Das politische System, das Gesetze und Verordnungen festlegt, verlangt von uns, dass wir Arbeitssuchende gründlich beobachten“, sagt Yngvar Åsholt aus der zuständigen Behörde, dem Nye Arbeids- og Velferdsetaten (NAV). Für deren Budget steht ein Drittel des norwegischen Staatshaushalts zur Verfügung. Im Vorjahr waren das immerhin 480 Milliarden norwegische Kronen (50,2 Milliarden Euro).

Doch wer heute auf die Hilfen und Mittel des NAV angewiesen ist, trifft auf mehr Härte. Nicht zuletzt bei Leistungen für Immigranten sei man viel strikter, heißt es in der NAV-Zentrale. Die Regierung wolle, dass Norwegen zu einem der strengsten Länder werde, was die Möglichkeit von Migranten angehe, Gelder zu erhalten. Das verwundert kaum angesichts der Tatsache, dass seit 2013 die fremdenfeindliche Fortschrittspartei – als Juniorpartner der konservativen Høyre – mitregiert. Man verlange von Einwanderern „den Willen, sich Arbeit zu suchen“, sagt Åsholt. Eine Filiale der Behörde nahm sich das zu Herzen und startete im Osten Oslos ein Projekt, bei dem Migranten befragt wurden, weshalb sie trotz guter Qualifikation oft keiner oder nur einer unterfordernden Tätigkeit nachgehen würden. Ergebnis: Viele haben gar nicht erst die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Doch nicht die Migranten, sondern Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen jenseits des Arbeitsmarktes stehen, seien die größte Herausforderung für den Wohlfahrtsstaat, stellt Åsholt klar. Deshalb wurde es zur NAV-Praxis, direkt mit den Firmen zu kooperieren, um so die Zahl der Empfänger von Krankengeld zu reduzieren, also schlicht und ergreifend dafür zu sorgen, „dass Menschen schneller wieder arbeiten“, wie der Sachbearbeiter einer Außenstelle verrät. „Wir müssen den Markt kennen“, ergänzt ein anderer. „Nur dann können wir ihm liefern, was er braucht.“

Wer krank ist, sieht sich nun stärker unter Druck gesetzt. Der Zeitraum für Überbrückungsleistungen bis zur Rückkehr an den Arbeitsplatz wurde verkürzt. Ansprüche, die aus Krankheiten resultieren, werden öfter infrage gestellt. Dadurch sei das System ehrlicher geworden, meinen viele Mitarbeiter beim NAV. Nach ein paar Jahren sei der Zug in Sachen berufliche Wiedereingliederung nun einmal abgefahren.

„Man versucht seit geraumer Zeit vermehrt, die Arbeitsanreize für bestimmte NAV-Kunden zu erhöhen. Dass dabei Menschen mit verminderter Arbeitsfähigkeit nur noch für kurze Zeit unterstützt werden, ist ein Beispiel. Ein anderes ergibt sich daraus, dass man jüngere Bezieher von Sozialhilfe zu bestimmten Maßnahmen verpflichtet“, sagt die Gewerkschafterin Trude Tinnlund. „Und das, obwohl es für junge Menschen zu wenige Jobs gibt.“

Politik der Bessergestellten

Bis in die 1990er Jahre hinein blieben die nordischen Länder von Austeritätspolitik eher verschont, doch zeigt sich heute, dass Schweden, Finnland oder Norwegen voll im Trend liegen. Ende 2017 legte das NAV einen Report mit dem Titel Armut und Lebensbedingungen in Norwegen vor. Dem war zu entnehmen: Der Anteil derer, die über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verfügen, ist in den vergangenen Jahren um fast zwei Prozent gestiegen. Aus Menschen mit Migrationshintergrund rekrutieren sich demnach 43 Prozent der Marginalisierten. Das ist kein Zufall, sondern Folge einer Politik, die bewusst auf Vorteile für Bessergestellte zielt. „Es gibt auf der rechten Seite des politischen Spektrums relevante Kräfte, die behaupten, dass der Wohlfahrtsstaat in Zukunft viel zu teuer wird“, sagt Trude Tinnlund. Tatsächlich hat das NAV bereits Worst-Case-Szenarien entworfen, nach denen sich im Jahr 2060 die Ausgaben für Sozialhilfe auf 19,5 und die für Renten auf 11,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes belaufen könnten.

Der norwegische Ökonom Kalle Moene postuliert seit langer Zeit, dass es gerade die egalitäre Umverteilung innerhalb Norwegens gewesen sei, die auf dem Weltmarkt Wettbewerbsvorteile verschafft habe. Beim NAV kennt man Moene durchaus, will aber einen zu teuren Wohlfahrtsstaat trotzdem mit aller Macht verhindern. Notfalls – wenn alle Stränge reißen – müsse der „deutschen Weg“ des Sozialabbaus gegangen werden, hört man in der NAV-Zentrale. Derartiges liegt eben in der Luft, wenn ein sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat nicht mehr von Sozialdemokraten, sondern Konservativen und Ausländerfeinden regiert wird.

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