Es regnet und stürmt, als Ulrike Lucas aus ihrem von Efeu umrankten Forsthaus tritt, das kleine Eingangstor öffnet und hereinbittet. Wenn sich das Wetter beruhigt habe, könnten wir in den Wald gehen, sagt sie. Ihr Arbeitszimmer ist rustikal eingerichtet, so wie das gesamte Haus, viel Holz, dunkelgrüne Polster, an den Wänden hängen ausgestopfte Tiere. Das Anwesen einer Revierförsterin, am Rande „meines Waldes“, wie sie sagt, des Grünauer Forsts ganz im Südosten von Berlin. Lucas trägt grüne Gummistiefel, die ihr fast bis zu den Knien reichen, auch drinnen, in ihrem Arbeitszimmer.
Klingt wie ein Klischee, aber es passt zu ihrem resoluten Auftritt. Sie hat es mit dem kleinsten Revier der Berliner Forsten zu tun, knapp 700 Hektar umfasst es, weniger als die Hälfte der Fläche des größten Reviers, dem Goriner Forst mit 1500 Hektar. Doch auch hier stellen sich die großen Fragen: Darf man Tiere töten? Wem gehört die Natur? Wie sollen wir mit dem Klimawandel umgehen? Seit Kurzem reden alle wieder vom „Waldsterben“, in Brasilien ist alleine im August Regenwald auf einer Fläche von 1.702 Quadratkilometern abgeholzt worden – das entspricht zwei Mal der Größe Berlins. Hierzulande fügen Klimawandel und Borkenkäfer dem deutschen Forst schweren Schaden zu. 800 Millionen Euro will Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner in den kommenden vier Jahren investieren, um dagegen vorzugehen.
Und Lucas? Ursprünglich wollte sie mal Maskenbildnerin beim Theater werden, ihre vom Rouge schimmernden Wangen und die akkurat getuschten Wimpern erinnern noch daran und bilden einen merklichen Kontrast zu den hohen Gummistiefeln. Doch ihre Eltern konnten sich die private Ausbildung nicht leisten, weshalb sie zum Umdenken gezwungen war. Als Kind hat sie viel im Freien gespielt, hier in Treptow-Köpenick, wo sie groß geworden ist. Naheliegend war da eine Lehre als Waldarbeiterin. Motorsäge statt Schminkspiegel. Im Winter des ersten Lehrjahres wird ihre Freude an dem Beruf dann auf eine harte Probe gestellt.
Beim Fällen einer Robinie fällt der Baum auf ihre Schulter und kugelt sie aus. Fünf Monate krankgeschrieben. Eine Operation. Danach war sie „nicht mehr so erpicht“ auf die Arbeit an der Säge. Also geht sie noch einmal studieren, Forstwirtschaft, das qualifiziert zur Delegation dieser Aufgaben. 2011 macht sie den Bachelor. Zwei Jahre später tritt sie die Stelle als Revierförsterin in Grünau an, die sie bis heute innehat. Sie organisiert die Holzernte, kümmert sich um den Aufbau eines „klimastabilen Waldes“ – weniger Monokultur, mehr Laubmischwald – und geht, hin und wieder, mit Kitas zur waldpädagogischen Bildung ins Gehölz. Und dann ist da noch die überbordende Bürokratie! So richtig Feierabend habe sie eigentlich nie, sagt sie, auch sonntags klingelt es an ihrer Tür. Da stehen dann Menschen, die einen verletzten Igel gefunden haben. Oder einen leblosen Fuchs. Tote Tiere spielen eine große Rolle in ihrem Beruf, täglich hat sie mit ihnen zu tun.
Endlich können wir uns in Richtung Wald aufmachen. Lucas zieht ihren braunen Jagdhut auf und steigt in den kleinen, hellgrünen Geländewagen, der auf dem Hof geparkt steht. Auffällige Warnmarkierungen sind darauf angebracht, rot-weiß gestreift, wie auf einem Absperrband. „Sicherheitsgründe“, sagt Lucas, nachts müsse sie oft im Dunkeln zu Unfallstellen rausfahren – dank der reflektierenden Markierungen wird sie dann von den anderen Verkehrsteilnehmern besser wahrgenommen. Wir fahren los, nur ein paar Meter, dann kommen wir neben zwei schwarzen Mülltonnen zum Stehen.
Auf der Hauptstraße, die durch ihr Revier verlaufe, würden hin und wieder Rehe und Wildschweine mit vorbeifahrenden Autos kollidieren, erzählt sie. Wenn das passiere, fahre sie mit ihrer Jagdwaffe dorthin, um die Kreatur zu „erlösen“. Durch einen sogenannten Kammerschuss würden Herz und Lunge des Tieres zerstört. Meist kann es sich schon gar nicht mehr bewegen, wenn Lucas es auffindet – auf der Straße liegend, mit gebrochenen Knochen, umringt von Polizei und Schaulustigen. „Die haben Angst, die haben Panik, die wollen da nicht sein, die wollen nur weg vom Menschen. In dem Moment ist es eine Erlösung“, erklärt sie nüchtern. Den Kadaver wirft sie dann in eine der nicht sonderlich großen Mülltonnen. „Manchmal gucken dann halt die Beene raus“, berlinert sie. „Oma Erna darf ihre tote Katze da aber nicht reinwerfen.“

Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz für der Freitag
Darf man Tiere töten? Ulrike Lucas geht auch auf die Jagd, was heutzutage nicht mehr selbstverständlich für ihren Berufsstand ist. Seit 25 Jahren gehen die beiden Rollen „Förster“ und „Jäger“ nicht mehr verpflichtend Hand in Hand. Deshalb schauen sie aus gänzlich verschiedenen Blickwinkeln auf den Wald. Man spricht vom sogenannten Wald-Wild-Konflikt: Der dem Jagen entwöhnte Förster würde die Tiere am liebsten gleich erschießen, sollten sie Probleme bei der Wiederaufforstung oder dem Waldumbau bereiten – wenn also das Reh am Setzling mümmelt oder das Wildschwein mit seinem Rüssel den Boden umpflügt, um Larven und Käfer aufzuspüren. Anders der Jäger. Sein Ehrenkodex, die sogenannte Waidgerechtigkeit, stellt die Artenvielfalt des Wildes unter besonderen Schutz. Diesen Rollenkonflikt muss Ulrike Lucas mit sich selbst ausmachen. Ungefähr einmal die Woche geht sie jagen, abends, wenn es dämmert. Trotzdem spricht aus ihr vor allem die Försterin, wenn sie sagt, bei ihr ginge „Wald vor Wild“.
Immer noch eine Seltenheit: Frauen im Forstberuf
Förster ist nach wie vor ein männlich dominiertes Berufsfeld. Die Ursache liegt vor allem darin, dass es Frauen in Deutschland bis in die 1970er Jahre gesetzlich verboten war, in diesem Metier tätig zu sein. Die „forstliche Vormerkung“ war jahrzehntelang an den abgeleisteten Militärdienst gekoppelt – das schloss Frauen von vornherein aus. In den 80ern fiel diese Beschränkung. Trotzdem sind heute gerade einmal durchschnittlich neun Prozent der Beschäftigten in den Landesforstverwaltungen weiblich. „Deswegen sollten mehr Mädchen am ‚Girl’s Day‘ in den Wald kommen, um den Forstberuf kennenzulernen“, sagt Ines von Keller vom Bund Deutscher Forstleute (BDF). Sie ärgert sich auch darüber, dass es weiterhin keine einzige Landesforstchefin gebe: „Das muss sich dringend ändern!“
Angekommen in dem Job, stehen Männer und Frauen vor denselben Herausforderungen. Etwa beim Thema Ökosiegel. Ungefähr elf Prozent des deutschen Waldes sind von der NGO Forest Stewardship Council(FSC) zertifiziert. Um das FSC-Zertifikat zu bekommen, muss der Forst gewissen Ansprüchen genügen. Zum Beispiel soll er nach „ökologischen und sozialen Standards“ bewirtschaftet werden. Hier sollen die „heimischen, also in Deutschland natürlich vorkommenden Baumarten“ bevorzugt werden. Im Glossar des FSC-Standards ist von der „nacheiszeitlichen Waldentwicklung in Deutschland“ die Rede. Unter diese Kategorie fallen Ahorne, Erlen, Birken, Buchen, Eschen, Eichen oder auch Pappeln. Der Grund: Die Wechselbeziehungen im Wald sind dermaßen komplex, dass man mögliche Risiken zu reduzieren versucht, indem man standortfremde Arten limitiert.
Das hat zu Problemen mit der lokalen Tierschutzszene geführt. Wir sind unterwegs zu einem der Hochsitze in Lucas’ Revier. „Das ist die sogenannte Kirrung“, sagt sie und zeigt auf einen Apfel, der etwa zehn Meter entfernt als Köder auf dem nassen Waldboden liegt. Wir sind jetzt ganz am Rande des Forstes, Bahngleise verlaufen in Sichtweite, man hört Züge vorbeifahren.
Mitleid? Fehlanzeige
Auch andere Dinge stören die Ruhe, Lucas fasst an das von der Feuchtigkeit ganz dunkel gewordene Holz des Hochstandes, „da sägen die dran, bis er umkippt“. Regelmäßig brächten die Tierschutzaktivisten das Gestell zum Einstürzen, unbemerkt, anonym, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Dabei würde die Försterin nur allzu gerne wissen, „was so losgeht bei denen im Kopp“. Wir klettern die Leiter des Ansitzes hinauf. Sie rate allen Jägern, die hierherkommen, die Stabilität des Sitzes zu überprüfen, bevor sie die Stufen betreten. Man könne ja nie wissen, ob sich die Aktivisten daran zu schaffen gemacht hätten. Auf der anderen Seite: „So halb ansägen wäre ja versuchter Mord, das machen die nicht.“ Lucas spricht von „falsch verstandener Tierliebe“, denn in ihrem Revier hätten Rehe und Wildschweine eben keine natürlichen Feinde mehr. „Soll sich die Population wieder über Krankheiten regulieren?“
Oben im Sitz angekommen ist es zugig, ungemütlich. Wie sich Lucas wohl fühlt, wenn sie von hier aus auf die Tiere schießt? Mitleid? Fehlanzeige. Sie sei passionierte Fleischesserin, sagt sie, kaufe auch noch Ware aus Massentierhaltung. Doch besser sei es, selbst zu erlegen, was man essen wolle. „Man ist derjenige, der entscheidet, dass das Tier jetzt stirbt. Im besten Fall guckt man ihm vorher noch in die Augen.“
Auf ihrer Abschussliste stehen vorrangig Jungtiere, die alten lässt sie meist am Leben. „Das würde sonst das ganze Gefüge zerfleddern. Wenn man zum Beispiel die Leitbache einer Wildschweinrotte rausschießen würde, blieben nur die Halbstarken übrig. Aber die brauchen ja auch Führung!“ Klassisches Jägerdenken, der Bestand muss gesichert werden. Wahrscheinlich klingt es brutaler, als es ist. Zurück im Auto. Wir ruckeln über die schmalen Waldwege, Zweige schlagen gegen die Scheiben. Wem gehört das hier eigentlich alles? Wem gehört die Natur? Knapp die Hälfte des deutschen Waldes ist in den Händen privater Eigentümer. Lucas’ Revier hingegen gehört zu den 29 Prozent, die sich in Landesbesitz befinden. Als Beamtin fühlt sie sich dem „Allgemeinwohl“ verpflichtet. „Ich darf keinen Zaum um den Wald ziehen, den ich betreue. Oder irgendjemandem verbieten, da reinzugehen.“ Es gebe ein „Betretungsrecht für jedermann“. So steht es auch im Landeswaldgesetz.
Was es nicht gibt, ist ein „Bleiberecht“ für jedermann. Rechts und links ziehen die Bäume an uns vorbei. Es passiert nicht selten, dass die Försterin mit ihrem kleinen Geländewagen durch das Revier fährt und plötzlich, gut versteckt im Gehölz, ein Zelt erkennt. „Meistens Jack Wolfskin oder Decathlon.“ Darin wohnen Obdachlose. Lucas atmet schwer ein, „gefühlt nimmt die Anzahl der Menschen zu, die zeitweilig im Wald wohnen“. Oft seien es Migranten. Aber auch viele Deutsche. „Ist jemand zu Hause?“, rufe sie dann, während sie sich behutsam der Schlafstätte nähere. Manche reagierten verständnisvoll, seien es gewohnt, weggeschickt zu werden. „Bei den Leuten mit osteuropäischem Hintergrund muss man gucken, ob sie einen verstehen. Hängt auch vom Alkoholpegel ab.“
Die Buche bricht ihr das Herz
Den Buchstaben des Gesetzes zufolge ist es eine Ordnungswidrigkeit, ein Zelt oder eine „ähnliche Lagerstätte“ im Wald zu errichten. Lucas ist da nicht so streng. Meistens räumt sie den Menschen eine Frist bis zum nächsten Tag ein, um ihr Hab und Gut zusammenzupacken.
„Wollen Sie noch ’ne Story hören?“ Sie erzählt vom „Klassiker“, den Berliner Förster regelmäßig beobachten würden, nämlich „wackelnde Autos mit beschlagenen Scheiben“. Da klopft sie dann kurz ans Fenster, spürt die Unruhe im Wageninneren, „dann wackelt’s noch mal kurz und dann fahren die weg“. Wir streifen weiter. „Sehen Sie die Buche da?“, fragt Lucas und zeigt auf die vertrockneten Blätter eines ziemlich kahlen Baumes, „da tränt mir das Herz.“ Man habe ihm in den vergangenen Dürresommern förmlich „beim Sterben zusehen“ können. Lucas parkt den Wagen in einer Einbuchtung, wir steigen aus. In diesem Teil ihres Reviers hat es während der diesjährigen Hitzemonate auf eineinhalb Hektar ein großes Feuer gegeben. Ursache unbekannt. Es war halt trocken. Die Folgen sind noch immer gut erkennbar: Die emporragenden Baumstämme sind bis auf die Höhe von einem Meter rußschwarz, es sind Kiefern, halb tot. „Man wird sehen, wie viele von denen noch sterben werden.“
Das Bodenfeuer, das hier wütete, hat ziemliche Schäden hinterlassen, auf der verbrannten Erde liegen angekokelte Äste, nur vereinzelt zeigt sich noch ein bisschen Grün. Apokalypse, irgendwie. Wie sollen wir mit dem Klimawandel umgehen? Lucas hätte da eine Antwort: „Mehr Douglasien! Mehr Roteichen!“ Es ist kein Geheimnis, dass diese Baumarten besser mit der Trockenheit zurechtkommen. Trotzdem darf sie sie in ihrem Revier nur begrenzt anpflanzen.
Laut Nachhaltigkeitszertifikat darf der Anteil „nichtheimischer“ Baumarten nicht höher als 20 Prozent liegen. Denn das Ökosystem des Waldes ist fragil, zu viele „Exoten“ könnten es ins Wanken bringen. Klimaresistenz oder Nachhaltigkeit? Lucas muss eine Balance finden. Aber das bereitet ihr nicht die größten Sorgen. „Jeder Förster findet im Durchschnitt eine Leiche in seinem Berufsleben“, sagt sie, als wir einige Zeit später aus dem Wald hinausfahren. Vor ein paar Jahren dachte sie, jetzt wäre es so weit. Jemand habe in ihrem Revier einen „Leichnam“ gefunden, hieß es. „Das war dann aber nur ein Leguan.“
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