„Es wurde Zeit.“ Das war die Antwort, die Lillian Crott dem norwegischen Botschafter gegeben hatte, als er sie fragte, wie sie sich nun fühle. Sie sollte nach mehr als siebzig Jahren ihre norwegische Staatsbürgerschaft wiederbekommen. Aber da war keine Rührung, kein Gefühl von Dankbarkeit. Das Bittere und die Demütigung hatten sich zu tief in ihre Seele gegraben.
Lillian Crott hat keinen Augenblick gezögert, als im Herbst 2018 plötzlich die Gelegenheit gekommen war, spätes Recht zu erfahren. „Ich bin nun 96 Jahre alt und mir ist klar, dass nur noch wenige Zeit bleibt, dass mir mein Wunsch erfüllt wird, als die zu sterben, als die ich geboren worden bin: als Norwegerin“, hatte sie der norwegischen Ministerpräsidentin Erna Stolberg in einem Brief geschrieben. Zwei Monate später war Norwegens oberster Diplomat in Berlin, Petter Ølberg, zu ihr nach Mülheim an der Ruhr gekommen, um ihr jenes Dokument zu übergeben, das für sie Rehabilitierung bedeutete. Ihr Land nahm sie wieder auf.
Ein gutes Jahr nach diesem Treffen empfängt mich die 97-Jährige in ihrer Wohnung, wo sie seit 66 Jahren lebt. Ihre Tochter öffnet die Tür, geleitet ins Wohnzimmer, wo die alte Frau mit fein gekämmtem Haar auf dem Sofa sitzt. Vor ihr auf dem Tisch liegt die norwegische Lokalzeitung Harstad Tidende. Das norwegische Fernsehen war schon hier, hatte über Crott und ihre Geschichte berichtet: von einer Liebe, die im von den Deutschen besetzten Norwegen nicht erlaubt war, die einer Norwegerin zu einem deutschen Soldaten. „Aber die Wahrheit durfte ich ja keinem erzählen“, sagt Lillian Crott leise, fast akzentfrei. Dann fängt sie an zu reden, nun darf sie es. Sie wirkt nicht sentimental, eher nüchtern. Sie gehört zu dieser Kriegskindergeneration.
Im April 1942 lernte Lillian Berthung, wie sie damals hieß, den Wehrmachtssoldaten Helmut Crott kennen. Er war in Harstad stationiert, einer Kleinstadt 250 Kilometer nördlich des Polarkreises. „Ich habe mich sofort in ihn verliebt“, sagt Crott. Da lebten die Norweger schon zwei Jahre unter deutscher Besatzung. Die Beziehung zu einem Besatzer war tabu. „Ich wusste, dass ich das nicht durfte!“ Doch Helmut habe ihr einfach so gut gefallen: das schöne Lächeln, die braunen Augen, die wunderbaren Zähne. An einem Tag im Mai 1942 küssten sie sich das erste Mal.
Der Schrecken, den die Nationalsozialisten verbreiteten, nahm auch in Harstad immer mehr zu. So war der Sohn der Schneiderin, die für die Berthungs hin und wieder etwas nähte, erschossen worden, weil er angeblich Informationen an die Engländer durchgestochen hatte. Eine jüdische Familie wurde deportiert. Lillian Crott erinnert sich, wie sie ihren Freund damals zur Rede stellte. „Was steht da? Gott mit uns. Das klingt, als ob ihr Deutschen einen eigenen Gott hättet“, sagte sie mit Verweis auf sein Koppelschloss.
Dann habe sie ihn gefragt: „Bist du denn auch dafür, dass man die Juden abholt und in ein Lager bringt?“ Er sei „ganz still“ geworden. „Du musst mir versprechen, dass du niemandem erzählst, was ich dir jetzt sage“, sagte er schließlich. Dass seine Mutter Jüdin sei. Helmut Crott war nach den Nürnberger Rassengesetzen ein „Mischling ersten Grades“. Nur durch seine Arbeit auf dem Geschäftszimmer konnte er die eigene Abstammung verheimlichen. Er schickte die Dokumente, mit denen er seine „arischen“ Wurzeln hätte belegen müssen, einfach nicht ab. „Ich lebe noch, weil ich in der Wehrmacht bin.“ Nach einer innigen Umarmung sagte Lillian Crott zu ihm: „Ich verlasse dich nie!“
Bald wussten die Menschen in Harstad von ihrer Beziehung. Erst kamen ihre Eltern dahinter, dann ihre Verwandten und Nachbarn – schließlich Vera, ihre beste Freundin seit Kindertagen. Es folgten Diskriminierungen und Schmähungen.
Sie wurde verraten
Der Vater „distanzierte“ sich von seiner Tochter, nachdem er von ihr und Helmut Crott erfahren hatte: Als sie im Februar 1945 mit einem Schiff der Hurtigruten in Richtung Süden ablegte, kam niemand zum Kai, um ihr Lebewohl zu sagen. Helmut Crott hatte darauf gedrängt, dass seine Freundin aus Harstad fort sollte, die Niederlage der Deutschen an allen Fronten kündete vom Ende des Krieges. Was würde mit einer Frau passieren, die sich mit einem Deutschen eingelassen hatte?
Die „Operation Weserübung“
Zweiter Weltkrieg Am 9. April 1940 überfiel die Wehrmacht im Rahmen der „Operation Weserübung“ gleichzeitig Norwegen und Dänemark. Dabei hatten die skandinavischen Außenminister im Februar 1940 auf einer Konferenz in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen noch einmal die „absolute Neutralität“ ihrer Länder unterstrichen.
Doch diese „absolute Neutralität“ stand zu diesem Zeitpunkt bereits zur Disposition. Denn schwedisches Erz aus Kiruna wurde über den nordnorwegischen Hafen Narvik nach Emden geliefert und landete auf diesem Weg in Hitlers Rüstungsindustrie. Dieser Praxis wollten die Alliierten nicht tatenlos zusehen. Also verminten englische Kriegsschiffe am 8. April 1940 das norwegische Hoheitsgewässer südwestlich von Narvik. „Die kleinen Nationen dürfen uns nicht die Hände binden, wenn wir für ihre Rechte und ihre Freiheit kämpfen“, hatte Winston Churchill – damals noch Marineminister – zuvor geschrieben. Die norwegische Regierung verfasste eine Protestnote gegen die britische Minenlegung. Am Morgen des darauffolgenden Tages, dem 9. April, übergab der deutsche Gesandte, Kurt Bräuer, der norwegischen Regierung ein Memorandum. Man komme nicht in „feindlicher Absicht“, hieß es darin.
Vielmehr gehe es darum, die englischen Pläne zu konterkarieren, Norwegen in einen Kriegsschauplatz zu verwandeln. Heute sind sich Historiker einig, dass es sich um eine „blanke Aggression“ vonseiten des „Dritten Reiches“ handelte. Chef der Marionettenregierung war von 1942 an der faschistische Vidkun Quisling. Deshalb bezeichnet man Kollaborateure in Norwegen bis heute als „Quislinge“.
Lillian Crott erlebte das Kriegsende am 8. Mai 1945 in Odda, südöstlich von Bergen. Niemand wusste dort von ihrer Beziehung zu einem Deutschen, trotzdem musste sie ständig auf der Hut sein. Schließlich traf es sie: Die Frau, der sie im Haushalt helfen und ein bisschen Gesellschaft leisten sollte – und bei der sie wohnte –, warf sie brüllend raus: „Du bist eine deutsche Hure!“ Lillian Crotts Blick wird bitter, wenn sie erzählt. „Der Briefträger hat mich verraten.“ Er hatte die Post von Helmut Crott einfach geöffnet.
Die gemeinsame Tochter hat inzwischen auf einem Sessel im Wohnzimmer Platz genommen: „Als meine Mutter mir das erste Mal von der Vermieterin in Odda erzählt hat, musste sie weinen.“ Eines Abends habe sie der Mut verlassen, sagt Crott. Da habe sie in Odda am Hafenbecken gestanden. „Wenn du da reinspringst, ist alles vorbei“, habe sie gedacht.
Die antideutsche Stimmung war nach Kriegsende stark – auch in Norwegen. Dabei war Crott selber Opfer gewesen, hatte nicht ihre Ausbildung als Handelsschülerin machen dürfen, sondern für die Deutschen im „Nationalen Arbeitseinsatz“ als Dolmetscherin arbeiten müssen. Sie war es, die im Herbst 1944 den „Führerbefehl“ ins Norwegische übersetzt hatte, der vorsah, die gesamte Finnmark abzubrennen. Hitler wollte den vorrückenden Russen im Nordosten „verbrannte Erde“ hinterlassen. Lillian Crott wurde von ihren Landsleuten wie eine Verbrecherin behandelt. „Man hat mich nicht mehr als Menschen gesehen. Die Frau in Odda, die mich doch kannte, hat mich nicht mal angehört.“
Die „Deutschenflittchen“ wurden nach dem 8. Mai von johlenden Menschen bespuckt, misshandelt, man schnitt ihnen auf offener Straße die Haare ab, fuhr sie auf Lastwagen zum Putzen in die Häuser, die von Deutschen während des Krieges beschlagnahmt worden waren. Man sperrte sie in Lager oder ins Gefängnis. Ohne irgendein Gerichtsverfahren.
Es sollte lange dauern, bis der norwegische Staat Selbstkritik üben würde, mehr als 70 Jahre. „Die Behandlung dieser Frauen hält einer kritischen Betrachtung im Licht der grundlegenden Prinzipien eines Rechtsstaats nicht stand“, sagte Solberg damals. Sie sprach vom sogenannten Eheerlass, der im August 1945 verabschiedet worden war: Er hatte es ermöglicht, Frauen des Landes zu verweisen, die nach dem 9. April 1940 einen deutschen Mann geheiratet hatten. Also nach dem Einmarsch der Nazis in Norwegen.
Ein dicker Kamelhaarmantel
Nun war der Moment für Lillian Crott gekommen, ihren Pass zurückzuverlangen. Sie wollte wieder Norwegerin werden. Den dunkelroten Ausweis trägt sie immer bei sich. „Das Wichtigste haben Sie mich ja noch gar nicht gefragt!“, ruft die 97-Jährige plötzlich. „Meine Einreise nach Deutschland, bei der ich unter Kohlen begraben war.“ Sie bewahre bis heute etwas auf, das sie bei dieser Reise begleitet hat. Ihre Tochter verlässt das Wohnzimmer, kommt mit einem braunen Kamelhaarmantel wieder. Den habe ihre Mutter im Juni 1947 getragen, als sie Norwegen verlassen hatte, um nach Deutschland zu kommen, wo Helmut Crott mittlerweile wieder wohnte. Von dort aus hatte er Lillian Crotts Reise akribisch vorbereitet: Das brauchte viel Einfallsreichtum, die Grenzen waren geschlossen. Schließlich bestieg sie den „Nordexpress“ in der dänischen Grenzstadt Padborg. Der eingeweihte Lokführer hatte sie unter mehreren Schaufeln Kohle versteckt. Wer illegal die Grenze übertrat, kam ins Gefängnis. Mitnehmen konnte sie nur, was sie am Leibe trug. Deswegen hatte sie mitten im Juni den dicken Kamelhaarmantel an. „Es gab niemanden – es gab nur uns beide“, sagt sie zum Wiedersehen auf dem Bahnsteig in Düsseldorf: Am 5. April 1948 heirateten Lillian und Helmut Crott. Ihre Eltern schickten ein Telegramm aus Harstad: „Auch wir wollen heute unter den Gratulanten sein.“ Es sei ihr schönstes Hochzeitsgeschenk gewesen.
Als Lillian Crott 1950 das erste Mal wieder nach Harstad reiste, musste sie sich bei der Polizei melden, ohne Pass, wie eine Fremde. Sie konnte sich damit abfinden. Mit den ehemaligen Nazis in Deutschland hingegen nicht. Ein Mann sagte, beim geselligen Beisammensein in ihrer Mülheimer Wohnung, es seien nicht genug Juden im Gas gestorben. Er kannte die Familiengeschichte der Crotts nicht: Helmuts Mutter war nach Theresienstadt deportiert worden, seine Tante wurde in Treblinka ermordet. Er wollte seine Abstammung auch nach dem Krieg weiter verheimlichen. „Er wollte kein Opfer sein“, erklärt Lillian Crott. Er wollte einfach ein Teil dieser jungen Bundesrepublik sein.
In den ersten Jahren nach dem Krieg war sie Teil des „Norskklubb“, erzählt sie. Dort trafen sich mehrere Norwegerinnen, die mit Deutschen verheiratet waren. Neben Lillian Crott gehörte auch eine Frau namens Ruth Gemmecke dazu. „Weißt du, wer Gemmecke war?“, das habe sie ihr entsetzter Cousin Anfang der 1980er Jahre gefragt, sagt Crott. „Diesen Namen sollte man in Trondheim lieber nicht aussprechen!“
Lieber nicht aussprechen!
Wieso Trondheim? Lillian Crott fing an zu recherchieren. Sie erfuhr aus einem Bildband über die mittelnorwegische Stadt, dass Ruths Ehemann während der Besatzungszeit Gestapo-Chef in Trondheim war, Ruth selbst war seine Sekretärin gewesen. Zum Thema machen konnte Lillian Crott das dann nicht mehr mit ihr: Ruth war zu diesem Zeitpunkt bereits schwer erkrankt und starb 1984.
Umso mehr merkte sie über die Jahre, dass sie über ihre eigene Geschichte nicht mehr schweigen wollte. Nach dem Tod ihres Mannes 2008 fing sie an, zusammen mit ihrer Tochter Randi Crott, ein Buch über ihr Leben zu schreiben, ihre Liebe, die Ausgrenzung und die deutsche Besatzung in Norwegen. Erzähl es niemandem! Die Liebesgeschichte meiner Eltern (Dumont, 2012) wurde in Deutschland ein Bestseller. Seither sind viele Jahre vergangen. „Vielleicht will der liebe Gott, dass ich hundert werde“, sagt Lillian Crott am Ende unseres Gesprächs. „Meine Eltern, meine Geschwister, all meine Freundinnen sind schon auf dem Friedhof.“ Sie ist übrig geblieben. Eines Tages wird auch ihr Name auf dem Grabstein ihres Mannes stehen: 3.000 Kilometer entfernt von hier, in Harstad. Da, wo sie sich das erste Mal trafen.
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