Die Neoliberalen sind großzügige Leute. Deren Vordenker, der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek, ließ sich nicht lumpen und wollte jedem in der Gesellschaft ein „Minimum an Nahrung, Obdach und Kleidung“ zugestehen, wie er es in seinem Buch Weg zur Knechtschaft betonte. Aber dann müsse wirklich Schluss sein, zu gleich solle es bitteschön nicht werden. Und überhaupt: Der Markt lasse sich nicht planen, er funktioniere nur als „spontane Ordnung“, als „Katallaxie“, wie Hayek es nannte, als großes Tauschgeschäft, bei dem man „aus einem Feind einen Freund machen“ könne.
Jahrzehnte später kam der, zugegeben weniger nobelpreisverdächtige, FDP-Chef Christian Lindner um die Ecke und gab Hayeks Marktradikalismus einen empathischen Anstrich. Fortan sprach der Politiker vom „mitfühlenden Liberalismus“: Also die Märkte sind schon noch frei, aber wenn das für manche Leute nicht so gut funktioniert, tut Lindner das wahnsinnig leid. Ach, es könnte alles so schön sein im liberalen Eldorado, überall florierender Warenverkehr und ultrabegabte Entrepreneurs– wären da nicht die staatsverliebten Linken, die für gesetzliche Lohnuntergrenzen trommeln.
Im Visier von Nahles
Und während im Jahr 1974 das Nobelpreis-Komitee in Stockholm noch honorige Liberale wie Hayek mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften auszeichnete, kriegen heute sozialistische Mindestlohn-Agitatoren wie der Kanadier David E. Card diese Ehrung. Bis vor kurzem konnte man sich easy gegen diese Forderung mit dem Argument wehren: Mindestlöhne pulverisieren Hunderttausende Jobs! Noch im Jahr 2011 sprach Lindner, damals noch Generalsekretär seiner Partei, im Zusammenhang mit einer gesetzlichen Lohnuntergrenze von „arbeitsmarktpolitischem Beton“. Nachdem die Ganoven in Berlin 2015, trotz seiner Unkenrufe, einen flächendeckenden Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro eingeführt hatten, warnte er weiterhin vor „Risiken am Arbeitsmarkt“: Die ganzen Minijobs für Studenten würden wegfallen, Handwerksbetriebe würden „ins Visier von Andrea Nahles“ geraten (die war damals noch Sozialministerin), alles ganz furchtbar.
Heute liegt der Mindestlohn bei schwindelerregenden 9,60 Euro. Massenarbeitslosigkeit hat das nicht ausgelöst: Die Quote liegt – trotz Pandemie – bei gerade einmal etwas über fünf Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung und für die Zukunft rechnen Experten sogar mit einem Mangel von 400 000 Fachkräften in Deutschland. Und als wäre es nicht schon schwer genug zu verkraften für die liberale Seele, dass gesetzlich festgelegte Löhne nicht zu langen Schlangen vor den Jobcentern geführt haben, fällt ihnen jetzt auch noch die Schwedische Akademie der Wissenschaften in den Rücken. Neben Card zeichnete sie am Montag noch die Forscher Joshua Angrist und Guido Imbens mit dem Wirtschaftsnobelpreis aus. Der mediale Fokus aber lag schnell auf Card: In den Neunzigerjahren hatte der heute 65-Jährige bewiesen, dass Mindestlöhne einen positiven Effekt auf die Beschäftigungsquote haben können. Spüren Sie es? Der verdammte Kollektivismus, er rückt uns immer mehr auf die Pelle.
Mindestlohn-Adel
Im Jahr 1994 hatte der Professor an der University of California nicht weniger als 410 Fastfood-Restaurants in den US-Bundesstaaten New Jersey und Pennsylvania unter die Lupe genommen und miteinander verglichen. In New Jersey hatte es zuvor eine Anhebung des Mindestlohns von 4,25 auf 5,05 Dollar gegeben, in Pennsylvania nicht. In seiner Studie mit dem Titel „Minimum Wages and Employment: A Case Study of the Fast-Food Industry in New Jersey and Pennsylvania“, welche Card zusammen mit dem 2019 verstorbenen Alan B. Krueger erstellt hat, kamen die beiden Forscher zu folgendem Ergebnis: „Wir fanden keinen Hinweis darauf, dass die Erhöhung des Mindestlohns die Anzahl der Beschäftigten reduziert hat.“ In New Jersey wurden sogar mehr Leute eingestellt, die verbesserte Kaufkraft machte es möglich.
Über derlei Forschungsergebnisse freuen sich hierzulande linke Ökonomen, der Düsseldorfer Professor Jens Südekum twitterte, er sei „super happy über die Auswahl“ des Nobelpreis-Komitees. Glücklicherweise gibt es noch libertäre Meinungsmacher wie die bei der Neuen Züricher Zeitung (NZZ), die nach Bekanntgabe der Preisgekrönten sofort zur Feder griffen, um vor einer „Adelung der Mindestlöhne" zu warnen und das „ökonomische Prinzip“ zu verteidigen, welches besagt, „dass von etwas weniger nachgefragt wird, wenn es teurer wird“. Mindestlohn rauf, Jobs weg, einfache Rechnung – Nobelpreis hin oder her. Die Kollegen in Zürich gingen so weit, die Forschungsergebnisse von Card und Krueger insgesamt in Zweifel zu ziehen. In Stockholm wiederum hätte man die handwerklichen Fehler der Studie bewusst unter den Teppich gekehrt. Die Botschaft war eindeutig: Bloß keine Mindestlohn-Debatte in der Schweiz! Dort hatte man sich 2014 in einer Volksabstimmung gegen eine gesetzliche Lohnuntergrenze entschieden.
Und hierzulande? Bleibt zu hoffen, dass Olaf Scholz, der eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro fordert und vermutlich der nächste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland sein wird, den Artikel in der NZZ genauso penibel studiert hat, wie David Card irgendwelche Schnellrestaurants im Osten der Vereinigten Staaten. Sonst ist hier bald Sodom und Gomorra.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.