Parteitag Nach dem Parteitag in Erfurt erwägt das Lager um Sahra Wagenknecht, sich neu zu organisieren – in einer anderen Partei? Die ersten ihrer Sympathisanten sind bereits ausgetreten
Bernd Riexinger geht an Krücken, sein rechter Fuß steckt in einem medizinischen Schuh. „Blessuren des Klassenkampfes“ seien das, scherzt er und lässt sich dann auf einen der vielen Stühle in der Messehalle fallen. Ob er noch Kontakt zu Sahra Wagenknecht habe, so hin und wieder? „Nein, gar keine Beziehung“, antwortet der 66-Jährige, „unsere Wege sind in der Partei auseinandergegangen“. Zu schwer haben sie sich gegenseitig das Leben gemacht. Damals, als sie beide noch führende Positionen in der Linken hatten.
Beim Bundesparteitag in Erfurt haben sich die „Bewegungslinken“, denen Riexinger angehört, klar gegen die linkspopulären „Wagenknechtianer“ durchgesetzt. Doch es könnte ein Pyrrhussie
Pyrrhussieg sein. Denn die Partei steht vor dem Zerfall.Ein Papier, das im Vorfeld des Parteitages von den Bundestagsabgeordneten Sahra Wagenknecht, Andrej Hunko und 80 weiteren Genossen eingereicht wurde, wollte den Solidaritätspassus mit der Ukraine aus dem Leitantrag streichen. Das korrigierten sie schell wieder. Aber auch in der Fassung, die sie in Erfurt zur Abstimmung stellten, wurde der Krieg „kontextualisiert“, wie Hunko es nach seiner Fürrede gegenüber dem Freitag formuliert. Soll heißen, die Invasion wird auch als Folge der westlichen Politik betrachtet: „wortbrüchige“ NATO-Osterweiterung und amerikanische Unterstützung des „Maidan-Putschs“ im Jahr 2014. Mit fünf Milliarden Dollar hätten die USA diesen Umsturz finanziert.Wie hältst du es mit Russland?Was nicht in dem Antrag steht: Diese Summe floss in einem Zeitraum von über 20 Jahren, zwischen 1991 und 2014. Aber auch sonst scheinen manche Unterstützer des Wagenknecht-Antrags eine eigene Sicht auf die Wahrheit zu haben. Ralf Krämer, der bis vergangenes Jahr im Parteivorstand der Linken saß, ist so einer. Am Telefon stellt er die Ereignisse des Massakers von Butscha in Frage – zumindest so, wie sie in den westlichen Medien dargestellt würden.Mindestens 420 Zivilisten sind während der russischen Besatzung von Butscha umgekommen. Aber Krämer sagt, er habe sich im Internet informiert: Die Munition, mit der die Menschen erschossen wurden, sei aus altem sowjetischen Bestand und würde auch von der ukrainischen Armee benutzt. Vielleicht, so Krämer, wurden die Leute durch ukrainisches Artilleriefeuer getötet? Außerdem habe der Bürgermeister am 31. März, nach dem Rückzug der russischen Truppen, nichts gesagt von Kriegsverbrechen – das sei ihm erst zwei Tage später eingefallen.Wie ein solcher Mann in derselben Partei sein kann wie Sofia Fellinger, ist schwer verständlich. Deren Eltern kommen aus der Ukraine, in Erfurt wollte die 19-Jährige für den Parteivorsitz der Linken kandidieren. Mitten in ihrer Bewerbungsrede, sie hat einen Blumenkranz in ihr rötlich gefärbtes Haar gesteckt, zieht sie die Kandidatur zurück. Zum jetzigen Zeitpunkt wolle sie nicht „das Gesicht“ der Partei werden, sagt sie. Manche hier würden behaupten, Verteidigung sei „genauso imperialistisch“ wie ein Angriffskrieg. In ihrem Landesverband in Nordrhein-Westfalen gebe es sogar einen Typen, der unter seinem Pulli ein Putin-Shirt trage und das für einen „witzigen Gag“ halte. „Das ist unerträglich!“Krämer gefällt es nicht, dass in Erfurt so „moraltriefend“ über die Ukraine geredet wurde. Und dass der von ihm unterstützte Antrag bei 90 Prozent der Delegierten durchfiel. Auch die vom Wagenknecht-Lager unterstützen Kandidaten für den Parteivorsitz, Heidi Reichinnek und Sören Pellmann, mussten sich dem gemäßigteren Duo Janine Wissler und Martin Schirdewan geschlagen geben. Eine Linke hatte zu Beginn des Parteitags vor diesem Szenario gewarnt: „Dann gehen 40 Prozent der Partei in die Emigration!“ Und so denkt auch Krämer nach diesem „schrecklichen Parteitag“ darüber nach, eine neue Partei zu gründen. Im Oktober soll es einen Kongress der „Populären Linken“ geben, ein von Wagenknecht unterstütztes Netzwerk in der Partei. Ob daraus etwas Neues entstehen könnte? Steht noch nicht fest. Aber ihre beiden Vertrauten, Harri Grünberg und Harald Schindel, haben die Linke bereits verlassen. Wagenknecht selbst sprach nach Erfurt von einem „Affront gegen einen relevanten Teil der Partei“ und davon, dass sie offenbar „nicht mehr erwünscht“ sei. Schon am Sonntag, als der Parteitag noch lief, hatte Sören Pellmann „persönliche Konsequenzen“ erwogen, weil sein Engagement „mit Füßen getreten“ werde. Die Linke steht 15 Jahre nach ihrer Gründung vor dem Zerfall.Das Problem: Wenn nur drei Bundestagsabgeordnete von der Stange gehen, verliert die mit 4,9 Prozent ins Parlament eingezogene Partei ihren Fraktionsstatus. Bei seiner Rede in Erfurt sagt Gregor Gysi, es gebe junge Leute, die würden glauben, „dass man die Partei auch krachen lassen kann“ und dann einfach eine „fantastische neue Partei“ aufbaut. Aber dann wären doch alle Mitarbeiter, Büros und auch die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung weg! Und gäbe es genügend Leute, die zu einer Neugründung bereit wären? Gysi glaubt das nicht.Für die beiden neuen Vorsitzenden Wissler und Schirdewan gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie fahren ihren jetzigen Kurs weiter und lassen die Wagenknecht-Sympathisanten am langen Arm verhungern. Dann treten diese bald aus, die Linke wird im Parlament zur „Gruppe“ ohne Fraktionsrechte, der russlandkritischere Kurs obsiegt genauso wie der Kampf für Klimagerechtigkeit und Minderheitenrechte. Oder sie binden den Wagenknecht-Flügel wieder mit ein, integraler Sozialismus, sollen die anderen doch den Westen für den Krieg in der Ukraine (mit)verantwortlich machen, viel zu nationalistisch denken und den Kampf für Diversity und Antirassismus für „Lifestyle“ halten!Doch für dieses zweite Szenario klafft die innerparteiliche Kluft schon viel zu weit. Luigi Pantisano, 43, sitzt in der Erfurter Messehalle, sein schneeweißes Hemd hat er akkurat in die Hose gesteckt. 2020 trat der Mitarbeiter von Bernd Riexinger als OB-Kandidat in Konstanz an und hätte im zweiten Wahlgang fast den amtierenden CDU-Mann Uli Burchardt aus dem Rathaus gejagt. Obwohl es nur um Kommunalpolitik ging, hätten ihm acht von zehn Leuten am Wahlstand gesagt: „Ach, ich würde euch ja wählen, aber diese Wagenknecht ...“ Pantisano wollte Konstanz bis 2035 klimaneutral machen und ein 365-Euro-Ticket für den Nahverkehr einführen. Sein Bruder ist Sprecher des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD). „Und dann bin ich mit einer Person in einer Partei, die von ‚skurrilen Minderheiten‘ spricht?“, regt sich Pantisano über das Buch Die Selbstgerechten auf. „Das ist echt hart.“Wo sind die jungen Leute hin?Der Ansatz von Wagenknecht ist der: Gender, Antirassismus und Klimapolitik sind schön und gut, aber weder kriegt man damit AfD-Wähler zurück, noch ändert es etwas an den herrschenden Kapitalverhältnissen. Ein Bewegungslinker wie Pantisano glaubt, dass der Kampf gegen den Kapitalismus mit dem Kampf gegen alle möglichen Formen der Diskriminierung unzertrennlich zusammenhängt. Und so erzählt sein Chef Riexinger in Erfurt vom Jahr 2016, als er Wagenknecht in einem Parteigremium angefleht habe: „Sahra, geh mit diesem Satz nicht vor die Presse.“ Aber, zack, ein paar Minuten später habe die Fraktionsvorsitzende vor den Kameras gestanden und die Silvesternacht von Köln mit den Worten kommentiert: „Wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht dann eben auch verwirkt.“ Was hätte er als Parteichef anderes machen sollen, als dagegenzuhalten, fragt Riexinger, im Programm hätten doch „offene Grenzen für alle Menschen“ gestanden!Nach der Bundestagswahl 2017 seien 400 Neumitglieder in die Partei eingetreten, erzählt Riexinger. Junge Linke seien das gewesen, die keinen Bock auf die neu ins Parlament gewählten AfD-Faschos hatten. Aber dann habe Wagenknecht das Migrationsthema für sich entdeckt und Sachen gesagt wie: „Nicht jeder kann nach Deutschland kommen, der das gerne will.“ Sofort seien die Eintrittszahlen wieder eingebrochen, „weil wir nicht mehr kohärent waren“.Pantisano setzt sich in Baden-Württemberg für Geflüchtete ein und will lieber über „Neu-Deutsche“ als über Migranten sprechen. Mit 48 Prozent wird er in den Parteivorstand gewählt. Er wünscht sich eine Außenpolitik, die auf die „Menschenrechte“ guckt. Wenn Moskau diese in der Ukraine mit Füßen tritt, dann müsse das verurteilt werden. Keine Doppelstandards, nur weil es Russland ist! Aber der Vorwurf der Doppelstandards kommt auch von der anderen Seite. Einer wie Krämer sagt: Wo sind die Sanktionen gegen die Türkei, wenn Erdoğan in Nordsyrien einmarschiert, um die Kurden zu vertreiben? Warum schmeißen wir Ankara nicht aus der NATO? Warum geht es immer nur gegen Russland?Knapp 42 Prozent der Delegierten stimmten in Erfurt für ein Papier der linken Schwergewichte Heinz Bierbaum und Christine Buchholz. Darin war von den „imperialistischen Widersprüchen“ zwischen der NATO und Moskau die Rede und davon, dass es nicht nur ein Krieg „gegen“, sondern auch „um“ die Ukraine sei – nämlich zwischen dem Westen und Russland. Wissler wollte nicht, dass das durchkommt, stand vor der Abstimmung am Saalmikrofon und sagte: „Ohne Wenn und Aber“ müsse der russische Angriffskrieg verurteilt werden. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum sie, wenn auch nur mit 57 Prozent, gewählt wurde: Sie hat was riskiert. Wenn am Samstag irgendein Antrag durchgekommen wäre, der den Krieg in einen „geopolitischen Kontext“ setzt, anstatt ihn in Bausch und Bogen zu verurteilen, dann wäre sie weg vom Fenster gewesen.Am Sonntagnachmittag verlässt Riexinger die Messehalle. „Wer zu einer Wahl antritt, muss damit rechnen, zu verlieren“, sagt er über den Ärger des Wagenknecht-Lagers, seine Mundwinkel gehen leicht nach oben. Dann humpelt er los zur Bahn.
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