der Freitag: Herr Schirdewan, wie geht’s Ihnen gerade?
Martin Schirdewan:Sehr gut! Die Delegierten haben mich mit einem klaren Ergebnis zum Parteivorsitzenden gewählt und ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit Janine Wissler, die ja in ihrem Amt bestätigt worden ist. Wir als Partei – also die Delegierten, Janine und ich – haben eine gemeinsame Idee, wie sich die Partei zu entwickeln hat.
Und, wie?
Wir müssen im Hier und Jetzt an die realpolitischen Konflikte in der Gesellschaft andocken. Das heißt, wir müssen jetzt die Energiepreise thematisieren. Wir müssen jetzt die steigenden Mieten thematisieren. Wir müssen jetzt die Nahrungsmittelspekulation skandalisieren. Und gleichzeitig müssen wir die Partei weiterentwickeln – da
ulation skandalisieren. Und gleichzeitig müssen wir die Partei weiterentwickeln – das hat der Parteitag verstanden.Die Hauptrolle auf dem Parteitag hat der Ukraine-Krieg gespielt. Der Leitantrag über „Krieg und Frieden“ wurde lange diskutiert. Die ukrainischstämmige Sofia Wellinger hat ihre Kandidatur als Parteivorsitzende zurückgezogen, weil sie manche Wortbeiträge zu prorussisch und sogar „unerträglich“ fand. Macht Sie sowas nicht fertig, wenn sich Linke mit ukrainischem Background bei der Linken so gar nicht mehr wohlfühlen?Der Parteitag hat ein ganz klares Signal der Solidarität mit der Ukraine und der leidenden ukrainischen Zivilbevölkerung ausgesendet. Das ist mir sehr wichtig. Und mir ist wichtig, dass wir Stimmen wie die von Sofia hier auf dem Parteitag hören, um zu begreifen, was dieser Krieg für die Zivilbevölkerung bedeutet.Naja, so klar ist das alles nicht, oder? Ein Ersetzungsantrag rund um die Politiker Heinz Bierbaum und Christine Buchholz bekam 226 Stimmen von den Delegierten. Darin stand, dass die „NATO-Staaten eine Mitverantwortung“ für den Krieg haben und Sanktionen gegen Russland einem „Wirtschaftskrieg“ gleichkommen...Trotzdem hat der Leitantrag des Parteivorstandes eine sichere Mehrheit gefunden; das muss man an der Stelle auch dazu sagen. Dass wir über einzelne Fragen diskutieren, zum Beispiel, wie Sanktionen im konkreten Fall gestaltet sein sollen, das ist legitim und gehört zu einer demokratischen Partei dazu. Aber wir sind uns einig, dass wir schärfste und eindeutige Sanktionen gegen Putin und seinen Machtapparat wollen. Also gegen die Oligarchen und Superreichen. So wollen wir wirtschaftlichen Druck auf Putin ausüben. Ich persönlich befürworte auch Sanktionen gegen den militärisch-industriellen Komplex in Russland, um dessen Kriegsfähigkeit einzuschränken. Aber dass wir über solche Fragen diskutieren, halte ich für sinnvoll. Das macht doch die gesamte deutsche Gesellschaft gerade. Trotzdem: 226 Stimmen für einen Antrag, welcher der NATO eine Mitverantwortung für den Krieg gibt. Das sind knapp 42 Prozent aller Delegierten. Jeder Konflikt in der Geschichte der Menschheit hat eine Geschichte. Aber die Geschichte dieses Konfliktes rechtfertigt keinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Das hat übrigens auch der Ersetzungsantrag nicht getan.Janine Wissler und Sie mussten sich in einer Kampfkandidatur Heidi Reichinnek und Sören Pellmann stellen, die auch Parteivorsitzende werden wollten und von Sahra Wagenknecht unterstützt wurden. Beide haben nur knapp über 30 Prozent bekommen. Sie und Wissler 61 beziehungsweise 57 Prozent. Sind Sie erleichtert?Das war ein fairer demokratischer Wettbewerb. Sören und ich waren während dieses Wettbewerbs auch im Austausch miteinander. Und wir haben uns nach dem Ergebnis die Hand gegeben und gesagt, dass wir auch weiter miteinander arbeiten werden. Ich bin nicht erleichtert, wenn ein Kandidat mehr oder weniger Stimmen kriegt, ich freue mich einfach über mein Ergebnis. Und über die Solidarität, die ich erfahren habe – auch von Sören.Wie geschwächt ist der Wagenknecht-Flügel nach dieser Wahl?Ich sehe das nicht als Flügelauseinandersetzung. Das war einfach ein klares Votum des Parteitags für einen politischen Kurs der Erneuerung der Linken. Denn wir werden in der Gesellschaft noch gebraucht.War die Wahl des Bundesgeschäftsführers auch keine Flügelentscheidung? Alle hatten damit gerechnet, dass es Ihr Wunschkandidat Janis Ehling wird und dann wurde doch überraschend der 36-Jährige Tobias Bank aus dem Bartsch-Lager gewählt.Ach, auf der Position des Bundesgeschäftsführers gab es mehrere starke Kandidaturen und die haben sich heute dem Parteitag präsentiert. Tobias Bank ist ein profilierter Kommunalpolitiker und arbeitet seit längerem im Parteivorstand der Linken aktiv mit. Da wurde schon eine gute Wahl getroffen. Und die Aufgabe des Bundesgeschäftsführers besteht auch darin, loyal gegenüber den Parteivorsitzenden zu arbeiten. Das ist meine Erwartung und mein Anspruch – und ich gehe davon aus, dass Tobias das erfüllen wird.Was haben Sie und Wissler in den nächsten Monaten und Jahren jetzt konkret vor? Zunächst müssen wir die Vielstimmigkeit in der Partei beenden. Das heißt, wir brauchen ein politisches Zentrum – und das ist naturgemäß beim Parteivorstand angesiedelt. Also bei Ihnen.Ja. Wir müssen über die politischen Grundentscheidungen gemeinsam und geschlossen nach außen kommunizieren. In enger Abstimmung mit den Landesverbänden und natürlich auch der Bundestagsfraktion. Und wenn alle führenden Politikerinnen und Politiker der Linken dieser gemeinsamen Parteientwicklung folgen, dann gelingt es auch, diese Vielstimmigkeit zu überwinden. Das ist die Voraussetzung, damit wir unser Profil und unseren Gebrauchswert in der Gesellschaft steigern. Die Vielstimmigkeit in der Vergangenheit war oft kein Ausdruck von Pluralismus, sondern mündete in Beliebigkeit. Genau an dieser Stelle werden Janine und ich ansetzen müssen: bei einer Kultur des Miteinander und der Gemeinsamkeit.Janine Wissler wird vorgeworfen, parteiinterne Sexismusvorwürfe nicht konsequent genug aufgearbeitet zu haben. Zwei Betroffene haben sich direkt nach ihrer erneuten Wahl zur Parteivorsitzenden mit Tränen in den Augen ans Mikro gestellt und gesagt: Ganz schlechte Entscheidung, keine Ahnung, ob ich in dieser Partei bleiben kann. Wie wollen Sie es schaffen, die Genossinen in der Partei zu halten?Also zunächst danke ich dem Jugendverband sehr dafür, dass sie das Thema von Sexismus und sexualisierter Gewalt in aller Klarheit angesprochen haben. Das Signal, das von diesem Parteitag ausgeht, lautet: Wir haben verstanden! Deswegen möchte ich noch vor der Sommerpause ein Treffen mit der Linksjugend, um die nächsten Schritte zu besprechen. Die zwei Frauen wurden von manchen Delegierten ausgebuht...Alle Stimmen, die dazu führen, dass hier Betroffene niedergepfiffen werden, haben noch nicht begriffen, dass es einen grundlegenden Kulturwandel in der Partei braucht. Das ist das, worauf der neue Parteivorstand hinarbeiten wird – damit wir unserem Anspruch als feministische Partei auch in der Realität gerecht werden.