Nichts ist vergesslicher als Dankbarkeit

Edward Snowden Deutschland steht im gesamteuropäischen Vergleich am tiefsten in Edward Snowden's Schuld. Jetzt haben wir gezeigt, wie viel uns diese Freiheit wert ist: Herzlich wenig.

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Snowden hat Asyl in 21. Ländern beantragt. Darunter auch in Deutschland. Das zeigt, wie verzweifelt jener junge Mann sein muss, den man zuvor noch als selbstverliebt und arrogant bezeichnet hat. Er muss nämlich schnellstmöglich raus aus Russland. Die Redensart „Vom Regen in die Traufe“ kommt einem in den Sinn. Großzügig bietet Putin dem Staatenlosen Zuflucht im eisernen Eurasien. Aber natürlich nicht ohne sie an Bedingungen zu knüpfen. Er dürfe bleiben, wenn er aufhört Amerika zu schaden. Diplomatie kann auch seine Schattenseiten haben.


Politisch Verfolgte genießen in unserer Bundesrepublik eigentlich das Recht auf Asyl. Und nichts anderes ist der junge IT-Profi. Die USA jagen ihn nicht, weil es einen rechtsstaatlichen Grund für eine Verurteilung gibt – man will ein Exempel an ihm statuieren. Ein Rechtsstaat ist das Gegenteil vom Willkürstaat. Wäre der Umgang mit dem Enthüller nach dem Rechtsstaatsprinzip abgelaufen, hätte er noch einen gültigen Reisepass und könnte sein Aufenthaltsort frei bestimmen. Er ist schließlich nicht verurteilt. Sollte man ihn fassen, wird sein „Vergehen“ mit aller Härte sanktioniert und die Weltpresse schaut zu. Imitatoren seiner Aufklärungsmission werden dann schwer zu finden sein. Moral ist eben nicht nur mit Geld käuflich, sondern auch mit Angst. Das Prinzip ist totalitären Staaten seit jeher bekannt. Der Hass der patriotischen Amerikaner ist trotzdem enorm. „Was man nicht weiß, macht ein’ nicht heiß“ kann man jetzt getrost knicken. Nur sehr ungern tut sich die Weltmacht eine Diskussion über Demokratie, Rechtsstaat und Privatsphäre an. Also ein demokratisches Profil, auf das wir als Wertegemeinschaft größten Wert legen. Demnach gab es für unser volksherrschaftliches Europa nur eine Möglichkeit auf den Abhörskandal zu reagieren: Den Whistleblower aufzunehmen und ihm Asyl zu gewähren. Wir sind es ihm eigentlich schuldig. Ein Mann, der sein Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Leben für unsere Freiheit geopfert hat, muss Schutz bei den Profiteuren seines Engagements finden. Denn wenn Wissen Macht ist, hat der einstige Schulabbrecher sehr viel Macht mit uns geteilt. Jetzt müssten wir ihn vor der erbarmungslosen Antwort seiner einstigen Kollegen bewahren. Das ist der einzige Trumpf, den die ausspionierten Länder noch in der Tasche haben. Auf der einen Seite könnten wir beweisen, dass wir in Zeiten politischer Unruhe die moralische Oberhand nicht verlieren, und auf der anderen Seite wäre es ein klares Signal, wo wir uns außenpolitisch in diesem Fall positionieren. Doch die Regierung Merkel hat sich anders entschieden und den Antrag abgelehnt. Dem eigentlichen Opfer ist damit nicht geholfen, aber immerhin hält man sich so die Möglichkeit offen, dass Obama bei seiner nächsten Berlin Rede wieder sein Jackett auszieht. „Unter Freunden können wir locker sein.“


Zur Klärung der rechtlichen Verhältnisse: Deutschland hat ein Auslieferungsabkommen mit den USA, das 2010 in Kraft getreten ist. Um einen Asylantrag zu stellen, müsste sich der ehemalige NSA Mitarbeiter auf deutschem Boden befinden. Real hatte die Bundesregierung also nur die Chance, dem amerikanischen Staatsfeind eine Aufenthaltsgenehmigung „aus übergeordnetem Interesse“ zu gewähren. Dazu musste die Wahrung von politischen Interessen der Bundesrepublik festgestellt werden. Vergeblich. Wir verraten hier unsere eigenen Attribute. Martin Luther nannte die Dankbarkeit „Die wesentliche christliche Haltung“. Wir bleiben dem Beweis schuldig. Schon Schiller wusste, dass nichts vergesslicher ist, als die Dankbarkeit. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wirbt auf seiner Internetseite mit dem Spruch: „Den Menschen im Blick. Schützen. Integrieren.“ Anscheinend leichter gesagt als getan. Es fehlt der politische Wille, sodass auch die SPD sich mitleidslos gegen Snowden stellt. Der Einfluss einer gespaltenen Opposition ist nun mal sehr begrenzt. Die Rolle der Empörten verbleibt somit wieder nur den Grünen und der Linkspartei. Dem Auswärtigen Amt war die Freundschaft dritter Klasse zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten wichtiger, als das Leben unseres Freundes erster Klasse. Guten Freunden gibt man wohl doch kein Küsschen.

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Geschrieben von

Dorian Baganz

Redakteur „Politik“, „Wirtschaft“, „Grünes Wissen“

Dorian Baganz, geboren 1993 in Duisburg, studierte Politik und Geschichte in London, Berlin sowie in Oslo. 2019 war er als Lokalreporter für die Süddeutsche Zeitung im Umland von München tätig. Seit 2022 ist er Redakteur beim Freitag und schreibt dort vornehmlich über Klimathemen und soziale Umbrüche. Gemeinsam mit Pepe Egger baute er ab 2022 das Nachhaltigkeitsressort „Grünes Wissen“ auf. Dort veröffentlicht er längere Reportagen, u.a. über geplante Gasbohrungen vor Borkum oder ein Wasserstoffprojekt in der Nordsee.

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