Der Begriff des Neoliberalismus ist nicht nur ein umkämpfter Begriff, sondern auch ein unscharfer: Wann und wie ist der Neoliberalismus entstanden? Was ist damit eigentlich genau gemeint? Der Historiker Quinn Slobodian hat eine originelle Geschichte des Neoliberalismus geschrieben, die dessen Geburt aus dem Geist der Zwischenkriegszeit nachzeichnet. Nicht gegen den Staat, sondern für einen marktkonformen Staat seien die ersten Neoliberalen gewesen, nicht gegen internationale Institutionen, sondern für solche, die einen globalen Markt erst ermöglichen.
der Freitag: Herr Slobodian, im Jahr 1963 hat die amerikanische Libertäre Ayn Rand den Rassismus als „die primitivste Form des Kollektivismus“ bezeichnet. Mit Blick auf heutige Neoliberale wie Trump, Farage oder Bolsonaro: Wo ist die Weltoffenheit der Kapitalisten nur hin?
Quinn Slobodian: Die „originalen“ Neoliberalen der Mont Pèlerin Society waren mit der Bekämpfung dessen beschäftigt, was sie als die größte Bedrohung der Reproduktion des Kapitalismus empfanden; in den 1930er und 1940er Jahren war das vor allem der Kollektivismus. Und zwar in seiner linken Form als Kommunismus und Sozialdemokratie – aber eben genauso in seiner rechten Form als Faschismus. In den 1990er Jahren formierte sich dann der Konsens, dass der Markt ein multilaterales Gehäuse bräuchte, wie wir es bei der EU, NAFTA oder der WTO sehen können. Auch auf den Euro hat man sich ja in dieser Zeit geeinigt. Die „Eigentümergesellschaft“ hatte da schon länger dafür gesorgt, dass es im neoliberalen Lager hieß: Um die Massen brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen!
Sondern um wen?
Anarcho-Kapitalisten wie Murray Rothbard glaubten, den Markt mit rechtem Populismus retten zu können. Ganz nach dem Motto: Es mag zwar sein, dass die Massen keine „Diktatur des Proletariats“ mehr anstreben ..., aber dafür die Eliten! Das war ihre Angst: Der durchschnittliche Europäer vertraut längst auf den Kapitalismus, weil sein Privatleben vom Dow Jones abhängt, aber Jacques Delors und andere Sozialisten kultivieren immer noch diesen Traum von Umverteilung; und möglicherweise benutzen sie supranationale Institutionen wie die Europäische Union als trojanisches Pferd, um ihre Jahrhundertvision zu verwirklichen. Das Narrativ vom „Backlash“, den es 2016 mit der Wahl Trumps gegeben hätte, ist also falsch.
Weil Trump auch nur den Kapitalismus retten will?
Genau. Wenn heute kolportiert wird, dass Trump oder Farage eine Abkehr von der Globalisierung bedeuten, kann ich nur sagen: Das ist alles andere als klar! Sie verkörpern einen globalen Kapitalismus. Wenn überhaupt stehen sie für eine Lossagung von einer Reihe von Institutionen aus den 1990er Jahren, die zur Steuerung der Globalisierung gedacht waren und ihrer Meinung nach der „Magie des Marktes“ und unternehmerischer Initiative im Weg stehen. Es handelt sich einfach um zwei verschiedene Arten, den Kapitalismus zu organisieren: entweder nach dem supranationalen Modell oder nach dem eher unilateralen, anti-multilateralen Modell.
Nigel Farage und seine Brexiteers wollen zwar den Europäischen Binnenmarkt loswerden, den Weltmarkt aber behalten.
Und wie die das wollen. Es geht um ein Zurück zum weltumspannenden Großbritannien. Die besten Hinweise darauf, wie eine Tory-geführte Post-Brexit-Welt aussehen würde, geben das Institute of Economic Affairs in London und das Cato Institute in Washington: Die sprechen sich für einen britisch-amerikanischen Freihandelsvertrag aus, der die englische Landwirtschaft nicht länger schützt und den Nationalen Gesundheitsdienst dem freien Wettbewerb aussetzt. Der erleichterte Zugang der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten der AKP-Gruppe zum europäischen Binnenmarkt ist ihnen auch ein Dorn im Auge – er schützt diese ehemaligen Kolonien vor dem Wettbewerb mit beispielsweise lateinamerikanischen Produkten.
Der Kapitalismus, wie er von seinen Befürwortern noch vor ein paar Dekaden verstanden wurde, beurteilte einen Menschen nur anhand eines einzigen Merkmals: Produktivität. Da ist der Anti-Rassismus inhärent, sollte man meinen. Aber die Rechten von heute picken sich nur den Aspekt der Wirtschaftsfreiheit heraus, ohne den Rest ihrer „Stammesethik“ ablegen zu wollen.
Na ja, da höre ich schon raus, dass der Rassismus erst 2016 wieder Einzug in unsere Wirtschaftsordnung gehalten habe – das würde ich bestreiten! Gerade in den Vereinigten Staaten war der Kapitalismus immer höchst rassifiziert. Trotzdem denke ich nicht, dass es beim sogenannten Rechtspopulismus primär um die Idee biologischer Inkompatibilität geht.
Es geht um Kulturalismus, also die Abwertung anderer, weil sie aus angeblich dysfunktionalen Subkulturen stammen. Denken wir an Trump und seine Bemerkung über „Drecksloch-Länder“.
Ich glaube, es geht um Hierarchien, die die Menschen nach ihrer Performance auf dem Markt beurteilen. Am exemplarischsten für diesen neuartigen Rassismus ist Thilo Sarrazin und sein Buch Deutschland schafft sich ab. Da steht auch nichts von „Blut und Boden“. Vielmehr heißt es dort: Diese und jene Gruppe hat aus ökonomischer Sicht weniger Fähigkeiten, deswegen sollten wir sie ausschließen.
Das erinnert an die Unterscheidung in „Plünderer“ und „Schaffende“ im Roman „Atlas Shrugged“ der amerikanischen Libertären Ayn Rand.
Ja, die „Steuerzahler“ und die „Steuerparasiten“. Was aber das Herzstück dieser Denkweise ist – und worum es mir in meiner Arbeit besonders geht –, ist der darin enthaltende Anti-Egalitarismus. Was den Neoliberalismus vor und nach 2016 prägt, ist der Glaube an die natürliche Ungleichheit der Menschen. Das ist diese „kalifornische Ideologie“ der nuller Jahre: „Manche Menschen haben es, manche nicht.“ Rassistisch wird es, wenn mit der Sprache der Psychologie ganze Gruppen ausgemacht werden, die diese Fähigkeiten entweder besitzen oder nicht besitzen – und die Politik dann anhand dieser Distinktion gestaltet wird.
Zur Person
Quinn Slobodian, 40, unterrichtet moderne deutsche und internationale Geschichte am Wellesley College in Massachusetts. Seine Schwerpunkte sind Nord-Süd-Beziehungen, soziale Bewegungen und die Geistesgeschichte des Neoliberalismus. Sein 2018 erschienenes Buch Globalists: The End of Empire and the Birth of Neoliberalism lässt den Neoliberalismus nicht mit Thatcher oder Reagan, nicht mit der Mont Pèlerin Society beginnen, sondern in Österreich-Ungarn.
Auch Friedrich August von Hayek sprach schon von „kultureller Evolution“.
Hayek ist die Brücke, genau. Wenn man liest, was er gegen Ende der 1960er Jahre geschrieben hat, stellt man fest, dass er zu dieser Zeit den Fokus mehr und mehr auf das Thema Kultur legt. Hayek fängt an, über die Bedingungen erfolgreicher Marktaktivität nachzudenken. Er meint, über die Jahrhunderte hätten die unterschiedlichen Kulturen verschiedene Religionen und Moralvorstellungen entwickelt, die sie dann wahlweise erfolgreich oder nicht erfolgreich im kompetitiven Markt machen – eine Wiederentdeckung des Sozialdarwinismus.
Dirk Jörke hat in dieser Zeitung kürzlich geschrieben, dass der EU die „neoliberale Programmatik in Form der vier Marktfreiheiten geradezu eingeschrieben ist“ („der Freitag“ 20 / 2019).
Hayek und Herbert Giersch, langjähriger Direktor des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, hätten da widersprochen. Die waren schon mit dem Vertrag von Maastricht unzufrieden. Sie waren der Ansicht, es sollte besser miteinander konkurrierende Währungen geben statt einer gemeinsamen. Im Zuge der Eurokrise und des Bail-out bestimmter Euroländer glaubten die Neoliberalen dann, sie hätten von Anfang an recht gehabt: Europa sei kein neoliberales Projekt, weil es nicht den ihrer Meinung nach vernünftigen fiskalischen Grundprinzipien folge. Und auf einmal schien der Nationalstaat wieder die Lösung des Problems zu sein.
In Ihrem Buch „Globalists“ schreiben Sie, das Ziel der Neoliberalen sei die Trennung von „Dominium“ und „Imperium“ gewesen. Was meinen Sie damit?
Diese Dichotomie stammt ursprünglich von Carl Schmitt. „Imperium“ ist die Welt der Souveränität und des Staates, „Dominium“ ist die Welt des Eigentums. Die Spannung zwischen diesen beiden Welten lässt sich nicht auflösen, sie bleibt bestehen. Man kann nur versuchen, eine verfassungsmäßige Ordnung zwischen ihnen herzustellen. Die politische Dynamik im 20. Jahrhundert war folgende: Die Idee der „one man, one vote“-Demokratie war genauso hegemonial geworden wie der „one language, one culture“-Nationalismus. Die Frage war nun: Welcher institutionelle Rahmen erkennt das an, ohne die Welt des „Dominium“ zu zerstören? Supranationale Institutionen wie das GATT, welches 1995 zur WTO wurde, hatten von Anfang an den Zweck, als Gehege zu dienen, das der Autonomie des Nationalstaates Grenzen setzt, um die Reproduktion des Kapitalismus nicht zu gefährden.
Der französische Romanautor Emmanuel Carrère warnte nach der Präsidentschaftswahl 2017 vor einer Rückkehr Le Pens, weil sie sozialer sei als Macron.
Rechtspopulistische Parteien weisen meistens dieselbe Flugbahn auf: Sie starten als neoliberale Austeritätsparteien, die ein bisschen xenophob und islamfeindlich sind. Nach einer Zeit nimmt die Fremdenfeindlichkeit überhand, „überschwemmt“ die neoliberale Ideologie und führt zur Forderung eines braunen Sozialstaats mit harten Grenzen. Aber ob Marine Le Pen wirklich soziale Politik machen würde, sollte sie ins Präsidentenamt gewählt werden, wissen wir nicht. Genauso wenig, ob sich der blaue oder braune Flügel der AfD durchsetzen würde, wenn sie regiert.
Der Rechtspopulismus ist also nicht als etwas zu verstehen, das dem Neoliberalismus entgegengesetzt wäre.
Genau, er ist keine Gegenreaktion des Neoliberalismus, sondern eine Familienfehde mit anderen Varianten des Neoliberalismus. Oder deutet im Moment nicht alles darauf hin, dass Boris Johnson als Premierminister auf Turbo-Kapitalismus setzen würde?
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