In der Nationalgalerie in Oslo hängt das berühmte Bild des norwegischen Künstlers Edvard Munch, das den Titel Der Schrei trägt. Zu sehen ist ein Mensch auf einem Steg, Mund und Augen weit aufgerissen, die Hände voller Angst gegen den Kopf gepresst. Während die Figur vor Schreck erstarrt, wenden sich die im Hintergrund gezeichneten Personen desinteressiert von ihr ab. Was immer das Wesen auf dem Steg auch in Panik versetzt haben mag – es kümmert sie nicht.
Man soll das mit der Verbildlichung nicht zu weit treiben. Aber diese Analogie macht vielleicht Sinn: Vielen Linken in Deutschland ist zurzeit auch bange. Die Agonie des Progressiven hierzulande lehrt ihnen das Fürchten. Ihnen ist zumute wie dem Wesen auf Munchs Gemälde. Während sie panisch Mund und Augen aufreißen, wenden sich die anderen gleichgültig von ihnen ab. 21 Prozent der Arbeiter haben bei der vergangenen Bundestagswahl ihre Stimme der AfD gegeben. Bei den Erwerbslosen war es sogar noch ein Prozent mehr. Es gibt heute viele linke Renegaten.
„Die LINKE braucht vieles, aber keine neue Partei“
Der Kampf ums Überleben hat im linken Lager verschiedene Gesichter. In der SPD streitet man über eine erneute Beteiligung an einer großen Koalition, deren sozialdemokratische Handschrift, so viel lässt das Sondierungspapier von Union und SPD vermuten, so schwach sein wird, dass sie fast verblasst. Und in der Linkspartei ist eine Debatte über eine „linke Sammlungsbewegung“ ausgebrochen; angestoßen von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht. Die beiden wünschen sich eine neue Volkspartei, ein Potpourri aus linksorientierten Sozialdemokraten, Grünen und Mitgliedern ihrer eigenen Partei. „Dem Anspruch, sozialer Politik in Deutschland wieder eine Machtoption zu verschaffen, kann sich doch kein verantwortungsvoller Mensch entziehen", wird Wagenknecht zitiert.
Kritik hagelt es von allen Seiten. Dietmar Bartsch, Bernd Riexinger, Katja Kipping: Alle dagegen. Sie wollen lieber die Linkspartei stärken. Und auch die Galionsfigur der Partei, Gregor Gysi, watschte am Sonntag die Idee mit nur einem Satz in den sozialen Netzwerken ab: „DIE LINKE braucht vieles, aber keine neue Partei.“
Was erwächst aus den Ruinen der Sozialdemokratie?
Ist eine Neugründung die adäquate Antwort auf die strukturelle Schwäche des progressiven Lagers? Was lässt Wagenknecht und Lafontaine glauben, dass eine weitere Fragmentierung der deutschen Parteienlandschaft der Bewegung zum Durchbruch verhelfen wird? Ja, viele linke Projekte – Ende der deutschen Bundeswehreinsätze im Ausland, Reichensteuer, starker Staat – finden zwar in der Bevölkerung, aber nicht im Bundestag eine Mehrheit. Doch wie verwandelt man „Volkes Stimme“, nach der die Rechten jetzt so lauthals verlangen, in legislative Mehrheiten jenseits der rechten Demagogen? Nachdem Oskar Lafontaine 2005 durch seinen Wechsel zu neu gegründeten Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG) der SPD ein Stück Fleisch aus dem Parteikörper geschnitten hatte, reüssierten die Linken in Deutschland anschließend nicht, sondern erlebten eine Spaltung, unter der sie bis heute leiden. Eine weitere Teilung soll jetzt das Patentrezept sein?
Wer eine neue Volkspartei links der Mitte gründen möchte, zielt darauf ab, den anderen Parteien die Leute abzuluchsen. So funktioniert das in der Demokratie. Doch wer beispielsweise eine über 150 Jahre alte Institution wie die SPD nicht mehr zu brauchen glaubt, irrt. Wir wissen nicht, ob aus den Ruinen der Sozialdemokratie ein neuer progressiver Hoffnungsträger oder der Autoritarismus auferstehen würde. Auch Wahlbündnisse – deren sublimierte Form nur die Neugründung einer Partei wäre –, wie die für die Parlamentswahl 2015 in Polen gegründete linke Zjednoczona Lewica, waren kein politischer Erfolg; haushoch dominiert die PiS-Partei heute den Sejm. Der bessere Weg: Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der altehrwürdigen Institutionen. Bei den britischen Unterhauswahlen im letzten Jahr hat Jeremy Corbyn 40 Prozent für die Labour Party geholt. Ganz ohne Neugründung, sondern mit dem Fokus auf die genuinen Probleme der sozialdemokratischen Klientel: Es ging um Ungleichheit, Obdachlose und Studenten. Das kam gut an. Angesichts des „From-Zero-to-Hero“-Erfolges von Corbyn hat man in der Parteizentrale in London bestimmt laut aufgeschrien. Aber nicht wie die Figur bei Edvard Munch aus Angst; sondern vor Freude!
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.