Es ist nichts Neues, dass Politiker gelegentlich mit Nebelkerzen um sich schmeißen. Bei der Parlamentsdebatte im März 2017 zum Beispiel, als das „Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ diskutiert wurde, sagte der damalige CDU-Bundesinnenminister Thomas de Maizière, man ziehe damit „wichtige Konsequenzen aus dem Fall Amri“. Kurz darauf wurde die Gesetzesverschärfung beschlossen – Abschiebehaft, Ausreisegewahrsam und elektronische Fußfessel inklusive. Als hätte es damals noch nicht unter anderem den Paragrafen 58a des Aufenthaltsgesetzes gegeben – Abschiebeandrohung zur Abwehr bei einer terroristischen Gefahr. Als seien nicht Vollzugsdefizit und Polizeiversagen schuld daran gewesen, dass der Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz nicht verhindert werden konnte. Zumindest sind das die Erkenntnisse des Bundestagsuntersuchungsausschusses und von Sonderermittler Bruno Jost. Einer scheint davon nichts internalisiert zu haben: CSU-Bundesinnenminister Horst Seehofer. Vor Kurzem wurde der Referentenentwurf des „Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ öffentlich, auch „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ genannt. Darin enthalten: eine euphemistisch als „Reisebeschränkung in das Inland“ bezeichnete Inhaftierung von abgelehnten Asylbewerbern, die fortan ohne richterliche Anordnung auskommen soll; außerdem die Aufhebung des Trennungsgebots zwischen Abschiebe- und Strafhaft und der schnellere Entzug des Duldungsstatus. Neu ist, dass nun auch hierzulande die Flüchtlingshelfer in den Fokus staatlicher Repressionen rücken: Wer über eine bevorstehende Sammelabschiebung informiert, soll mit bis zu drei Jahren Haft oder einer Geldstrafe belegt werden. Ein staatlicher Angriff auf die „Anti-Abschiebe-Industrie“, von der Alexander Dobrindt (CSU) einst fabulierte.
Leipzig hat viel Platz
„Ja, zu der wollen wir auf jeden Fall gehören“, sagt Liza Pflaum von der „Seebrücke“. Das Bündnis entstand im letzten Juni aus der Empörung darüber, dass das Rettungsschiff „Lifeline“ mit 234 geretteten Menschen an Bord zunächst weder in Italien noch in Malta anlegen durfte. Mittlerweile ist daraus eine europaweite Bewegung gegen Abschottungspolitik und die Kriminalisierung von Seenotrettung entstanden, deren Mitinitiatorin Pflaum ist. Sie organisierte die erste Demonstration im Juli in Berlin. Heute koordiniert sie mit Mitstreiterinnen das Geschehen aus ihrem Coworking Space im Bezirk Neukölln, versucht den Kontakt mit den regionalen Ablegern im Bundesgebiet zu halten. Mittlerweile sind es so viele, dass selbst Pflaum den Überblick verloren hat. Knapp 90 lokale Organisationen gibt es, schätzen sie hier in Berlin. In der Hauptstadt kümmern sie sich auch um den „großen Zuspruch“ aus der Bevölkerung, meist Einzelspenden. „Wir werden aber auch von anderen Organisationen unterstützt“, sagt Pflaum.
Da stellt sich die Frage der Organisationsform. Doch die Seebrücke will sich gar nicht erst in das Schema irgendeines zivilgesellschaftlichen Interessenverbandes zwängen. Das Dezentrale biete zu viele Vorteile, alle könnten sich anschließen, Aktionen starten. „Jeder kann ein Teil der Seebrücke sein“, so die Aktivistin. Zum Vorstoß des Innenministers kann sie nur den Kopf schütteln, „das ist restriktive und menschenfeindliche Politik“. Zuspruch erfährt sie dafür unter anderem von Juliane Nagel. „Aber so was erwartet man ja aus dem Hause Seehofer“, sagt die migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im sächsischen Landtag. Sie sitzt auch im Stadtrat von Leipzig, aber eigentlich komme sie aus der außerparlamentarischen Ecke, gibt sie zu verstehen. Sie engagiert sie sich unter anderem in flüchtlingspolitischen Organisationen, zum Beispiel dem „Initiativkreis Menschen. Würdig“. Auf zwei Demos der Seebrücke in Leipzig hat sie schon gesprochen. In Zusammenarbeit mit der Bewegung brachte sie im Oktober einen Antrag ins Stadtparlament, der die Kommune auffordert, sich an das Bundesinnenministerium zu wenden und zu erklären, „dass Leipzig bereit ist, aus der Seenot gerettete Flüchtende aufzunehmen“. Die größte Stadt Sachsens sollte zu einem der „sicheren Häfen“ werden, wie sie die Seebrücke fordert. „Das ist auch vor dem Hintergrund geboten, dass in Sachsens Flüchtlingsunterkünften massiver Leerstand herrscht“, sagt die Expertin für Migration, „hier gibt es einfach Platz.“ Bislang war ihr Bemühen vergeblich. Stattdessen existiere seit Dezember einen „Abschiebeknast“ in Dresden, wie Nagel ihn nennt. Woanders ist man da weiter: 36 Kommunen haben sich zu einem solchen „sicheren Hafen“ erklärt, neben Berlin beispielsweise Bonn und Braunschweig.
Bonn war schon im Juli dabei (der Freitag 30/2018), von Anfang an engagiert sich bei der dortigen Seebrücke Osama Shibani. Als Geflüchteter aus Syrien könne er sich in die Notlage vieler Menschen hineinversetzen, sagt der 22-Jährige. Deswegen macht er hier mit, „wenn ich Zeit und Energie habe, bin ich aktiv“. Er hält Vorträge über die Initiative vor Studierenden, gibt Interviews.
„Die Aufnahmebereitschaft in den Kommunen steht klar in Verbindung mit der hohen Todesrate im Mittelmeer“, glaubt Liza Pflaum. 208 Geflüchtete sind allein im Januar ertrunken. Doch anstatt durch eine orchestrierte Seenotrettung so schnell wie möglich das Sterben zu beenden, kommt es auf europäischer Ebene immer noch zum Gerangel darüber, welches Land für den jeweiligen Asylantrag zuständig ist.
170 Tote an zwei Tagen
Die Dublin-III-Verordnung der EU sieht jenes Land in der Verantwortung, in dem die Geflüchteten zuerst registriert wurden. Mit der Folge, dass Mittelmeer-Anrainer wie Italien, Malta und Frankreich ihre Häfen schließen, um sich der ungleich verteilten Verantwortung zu entziehen. Selbst das einst flüchtlingsfreundliche Spanien hindert inzwischen Rettungsboote daran, in See zu stechen. Und seit dem „Werkstattgespräch“ der CDU ist klar, wie groß noch immer der Wille zu Law and Order ist.
Doch immer häufiger wehrt sich die Zivilgesellschaft gegen diesen Zynismus der politischen Kaste und dessen katastrophale Folgen. Zwei Beispiele aus Niedersachsen: Nach Protesten der Seebrücke brachte die „Bürgerinitiative Braunschweig“ im Dezember einen Antrag in den Gemeinderat ein; mit der Annahme erklärte sich die Stadt bereit, die aus Seenot Geretteten bei sich aufzunehmen, zumindest „im Rahmen ihrer Möglichkeiten“. Die Resolution wurde gegen die Stimmen von CDU und AfD beschlossen, die FDP enthielt sich. Nachdem am 18. und 19. Januar innerhalb von 48 Stunden 170 Menschen vor den Küsten von Libyen und Spanien ertranken, organisierten Aktivisten der Hannoveraner Seebrücke eine 24-Stunden-Mahnwache in der Marktkirche. Der Ex-Kapitän der „Sea Watch“, Bruno Adam Wolf, hielt eine der vielen Reden. Für die Opfer wurden Kerzen angezündet, für die Seenotretter „Solidaritätskarten“ gebastelt.
Ob Seehofers Versuch, die Flüchtlingsunterstützung zu kriminalisieren, durch das Parlament kommt, ist ungewiss. Europaweit sind Aktivistinnen von diesem Trend ohnehin schon betroffen: Der Sea-Watch-Kapitänin Pia Klemp drohen in Italien für „Beihilfe zur illegalen Einreise“ bis zu 20 Jahre Haft. „Wir werden uns weiter dafür einsetzen, dass das nicht Normalität wird“, sagt Liza Pflaum. In Dessau hängen zurzeit orange Rettungswesten an den Kirchtürmen. Die Protestaktion soll 40 Tage dauern, in der Bibel die Zahl für Besinnung und Umkehr.
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