Der Brief

Kehrseite II Er steigt die Treppen hinauf. Auf dem Absatz zwischen dem zweiten und dritten Stock steht ein Tisch. Ein alter Holztisch, dessen Furnier schon ...

Er steigt die Treppen hinauf. Auf dem Absatz zwischen dem zweiten und dritten Stock steht ein Tisch. Ein alter Holztisch, dessen Furnier schon abblättert. Davor ein Stuhl. Auf dem Tisch liegt ein Blatt Papier und sogar ein Bleistift aus rot lackiertem Holz.

Er setzt sich auf den Stuhl.

Frau Renner hatte ihn dort hingestellt, um sich beim Kohlen holen auf dem Rückweg in ihre Wohnung ausruhen zu können.

Er nimmt den Stift in die Hand und dreht ihn zwischen den Fingern. Er setzt die Spitze auf das Papier und schreibt.

"Meine liebe Inge", schreibt er. Seine Schrift ist ungelenk.

"Meine liebe Inge."

Ratlos fährt er sich mit der linken Hand durch sein spärliches Haar. Dann stützt er sie auf den Schenkel, so dass der Ellenbogen nach außen zeigt, wie bei einem Kutscher. Seine Rechte bleibt auf dem Papier liegen. Er beißt sich auf die Unterlippe.

"Meine liebe Inge."

Unten klappt die Haustür. Jemand klopft sich den Schnee von den Schuhen. Ein Briefkasten wird geöffnet. Kräftige Männerschritte kommen die Treppe herauf.

Wie soll er seine Anwesenheit hier erklären? Jetzt halten die Schritte inne. Im ersten Stock wird eine Wohnungstür aufgeschlossen. Es ist die Mitteltür. Sie quietscht immer noch genau so.

Er starrt auf die drei Worte, die er dort hingeschrieben hat. Dann guckt er zur Wand gegenüber, als wäre dort etwas zu entdecken, was ihm weiterhelfen könnte.

Das Treppenlicht geht ständig aus. Er kann den Schalter von seinem Stuhl aus erreichen. Es ist noch immer der alte schwarze Bakelitschalter mit dem Messingknopf. Darüber freut er sich.

Jetzt holt er die Streichholzschachtel aus der Hosentasche, entnimmt ihr ein Holz, bricht es durch und klemmt das Holzende in den heruntergedrückten Schalter. Das andere Stück schiebt er wieder in die Schachtel zurück.

Was jetzt wohl dort oben für Menschen wohnen? Nein, er wird nicht klingeln. Man weiß nie, ob sie nicht womöglich die Polizei rufen. Er weiß, dass er aufpassen muss. Er möchte nur noch einmal an diese Tür, hinter der er mit Inge gewohnt hat.

Er wird ihr schreiben, dass er heute in der alten Wohnung war, nein, bei der alten Wohnung; wie die Leute heißen, die dort jetzt wohnen, und dass er hofft, dass die auch so eine glückliche Zeit haben wie sie beide. Das kann er ihr alles erzählen. Und dass er aus dem Heim abgehauen ist. Und dass er drei Tage gebraucht hat, um die alte Straße wieder zu finden. Und wie glücklich er jetzt ist. Und von dem Tisch natürlich, von dem Tisch muss er ihr unbedingt erzählen. Dass sogar Papier darauf lag und ein Stift, einfach so.

Und wenn er den Brief fertig hat, wird er sich auf den Weg zum Friedhof machen. Als er im Heim war, haben sie ihm verboten, allein spazieren zu gehen. Und dann wird er Inge seinen Brief bringen.

Früher hat er Inge auch Briefe geschrieben. Liebesbriefe. Da war sie achtzehn und er einundzwanzig. Er hat sie ihr heimlich abends aufs Fensterbrett gelegt. Ihre Mutter durfte nichts davon wissen, sie fand, dass Inge etwas Besseres als ihn verdient hätte. Aber Inge wollte nichts Besseres, sie wollte nur ihn, und hatte sich schließlich durchgesetzt. Gott sei Dank.

Er ist eingenickt. Nun sieht er aus dem Fenster den schwarzen Himmel. Sogar ein halber Mond leuchtet ihm zu.

Das Holz klemmt noch immer im Schalter. Der Bleistift ist ihm aus der Hand gefallen und liegt jetzt auf dem Boden.

Er reibt sich die Augen. Er hebt den Bleistift auf. Sein Mund ist trocken. Hunger hat er auch.

Langsam fährt er sich mit der linken Hand über die welken Lippen. In der Rechten hält er jetzt wieder den Stift. Er liest, was er bisher geschrieben hat.

"Meine liebe Inge."

"Ja", sagt er zufrieden. Sein halblautes Wort hallt eigenartig im nächtlichen Treppenhaus nach. Er nickt. Da steht doch schon alles, was er ihr sagen muss.

Er setzt den Stift aufs Papier und schreibt darunter:

"Dein Heinz."

Doris Bewernitz wurde 960 in Mecklenburg geboren, sie schreibt Kurzgeschichten und Lyrik, die in zahlreichen Anthologien erschienen sind. Sie lebt in Berlin.


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