Seit ich regelmäßig in einer Kindertagesstätte verkehre, mache ich mit Viren Bekanntschaft, deren Existenz mir noch vor einem Jahr vollkommen unbekannt war. Sie erweitern den medizinischen Horizont, ohne dass man gefragt wird. Ein besonders hartnäckiger Virus ist diese Woche jedoch auch Anlass einer Erweiterung meines persönlichen Stadtbildes. Neben Kindertagesstätten sind Kinderärzte die Hauptumschlagsplätze für Viren. Da wir derzeit krankheitsmäßig jedoch verschont sind, ein Kinderarzt-Besuch aber Pflicht ist, versuche ich heute Nachmittag die Wartezeit vor der Tür in der milden Frühlingsluft zu überbrücken.
Auf dem Neuen Pferdemarkt wimmelt es von Gazelle-Hollandrädern, den "Trabis" der ökologischen, ur
en "Trabis" der ökologischen, urbanen und ziemlich uniformen Mittelschicht. Ich blinzle in die Sonne und werde um ein Haar von einem niederländischen schwarzen Zweirad überfahren. Das Wetter lädt zu einem Latte am nahegelegenen Schulterblatt, dem Catwalk des Schanzenviertels, ein. Dafür reicht die Zeit jedoch nicht. Ich entscheide mich für „eine Runde um den Block“. Die Kinderarzt-Praxis liegt an einer kleinen Straße namens „Bei der Schilleroper“, auf deren Kopfsteinpflaster der Buggy entlang holpert. Auf dem Bürgersteig kommt mir eine Kindergeburtstags-Gesellschaft entgegen. Ein kleines leicht untersetztes und sehr gesprächiges Mädchen in einem grasbefleckten rosa Tüllkleid stellt sich mir als angehende Zirkusprinzessin vor.Ufos, Albers und SubkulturPasst irgendwie. Die Schilleroper, auf die die kleine Straße bezeichnender Weise hinführt, ist der letzte noch bestehende Zirkusbau Deutschlands und liegt etwas eingepfercht zwischen dem modernen Klinkerbau des Polizei-Komissariats Nr. 16, des Asia-Restaurants „Madam Hu“, einer Kita sowie Neubau-Häuserzügen mit Windräder auf den Balkonen und gebastelten Fensterbildern. Die beige-schmutzige Rundkonstruktion mit dem kleinen Glastürmchen wirkt wie aus einer fernen Zeit, die man mit den gängigen Subkultur-Aufklebern und Graffitis notdürftig in die Gegenwart des Stadtteils St. Pauli integrieren wollte. Ein Ufo, das hier aus Versehen gelandet ist.So ist es aber nicht. Wenn es Ufos gäbe, so wären ihre Fenster sicherlich nicht mit Pressspan-Platten zugenagelt. Die Schilleroper steht schon länger da, ziemlich lange um genau zu sein. Die Konstruktion des runden Stahlskelettbaus soll architektonisch der des Eiffelturms ähneln und wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts für den Circus Busch erbaut. Der Zuschauerraum hatte Platz für 1000 Besucher. Aus dem Zirkus wurde schnell ein Theater, das mit Schillers „Wilhelm Tell“ im Jahre 1904 eröffnete. Eine Aufführung, die dem Theater auch den Namen verlieh. Hans Albers trat hier später mit knarzender Stimme und bekannten Weisen auf. Franz Léhar dirigierte hier seine Operette "Giuditta". Zahlungsunfähigkeit und Brand erlitt sie, Lagerhalle, Austragungsort für Ringkämpfe sowie unwürdige Unterbringung für Asylbewerber war die Oper im Laufe des letzten Jahrhunderts. Anfang der 2000er beheimate das alte Gebäude einen Subkultur-Club, der 2006 jedoch wieder schließen musste.Werd lieber ÄrztinDerzeit gibt es keine Besucher, keine Bewohner und keine Funktion mehr. Ein paar Jungen größtenteils in St. Pauli-Trikots dreschen einen Ball gegen dem grobmaschigen Eisenzaun, der einen zugewucherten Seitengang auf dem Areal absperrt. Man erkennt letzte ausgehebelte Zuschauerreihen in dunkelbraun, die auf alten Autoreifen ruhen und in der Frühlingssonne vor sich hin gammeln. Durch ein paar hochgebogene Türgitter kann man verrostete Tanks und Eisentüren erkennen. Mir kommt eine kleine Frau mit einem übergewichtigen Hush Puppy namens „Hans“ entgegen, der interessiert an der Außen-Fassade schnüffelt, um dann hier sein Revier zu markieren. Weiß er um seinen Namensvetter, der hier früher Stücke von Hafen, See und Liebe schmetterte?Vor einigen Wochen ist jedoch Bewegung in die Sache gekommen. Die Schilleroper wurde von der Stadt Hamburg immerhin offiziell zum Denkmal erklärt. Ein Abriss des Gebäudes auf lukrativem Baugrund, so wie zeitweise wohl von den Eigentümern geplant, ist jetzt nicht mehr möglich. Nach meinem Rundgang kommt mir noch einmal die grasbefleckte Zirkusprinzessin entgegen. Vielleicht sollte sie ihren Berufswunsch nochmals überdenken, wenn sie eine Zirkusprinzessinnen-Karriere in Hamburg anstrebt. Zum einen ist – Denkmal hin oder her – „keine kulturelle Großnutzung“ in der Schilleroper geplant, zum anderen werden im Moment Ärztinnen gebraucht, um diese lästigen Viren zu bekämpfen.