Der Bahnhof voller Geigen

Hamburg zu Fuß Seit Doris Brandt öfters zu Fuß in Hamburg unterwegs ist, gewinnt sie ganz neue Perspektiven auf die Stadt. Heute wird sie am Bahnhofsvorplatz von Vivaldi beschallt

Vivaldis Geigen streichen seicht wenn auch leicht überkoppelt aus den Lautsprechern. Die Sonne wird dankbar von der schneeweißen neobarocken Fassade des Deutschen Schauspielhauses aufgenommen, die sich am heutigen Oktober-Tag gegen einen tiefblauen Himmel abhebt. Die Akustik seufzt geradezu nach Kaffeehaus-Stühlen, Käffchen aus Meissner Porzellan und frische Blumen-Bouquets. Heile Welt auf einer leicht überbelichteten Postkarte. Hier draußen am Bahnhofsausgang Kirchenallee riecht es allerdings nicht nach frisch gepflückten Blumen. Es riecht nach Urin und nach der Imiglykos-Pfütze aus einem Ein-Liter-Tetrapack, die sich ihren Weg über die dunkelgrau-rostbraun-marmorierten Steingutplatten bahnt. Irgendwo zerspringt eine Flasche. Die Fassade des Deutschen Schauspielhauses ist zwar wirklich weiß, doch steht es auf der anderen Straßenseite. Die Kirchenallee trennt Welten.

Vivaldi geigt indes in der Bahnhofswelt. Geigen für die Transferassistentin eines Kreuzfahrt-Veranstalters, die an der Ausgangstür tapfer ein großes Schild mit dem Firmen-Logo in die Höhe hält, um die ankommenden Gäste zum Transferbus zugeleiten, und das bitteschön zügig am Bahnhofsvorplatz-Alltag vorbei. Geigen für den Seppel-behüteten Männer-Verein in Motto-T-Shirts aus Rosenheim. In erster Linie wird jedoch für den zahnlosen, aschfahlen Träger einer Jacke mit der Aufschrift „Hardcore Rotterdam“gegeigt, der hinter dem Kreuzfahrtveranstalter-Schild das Straßenmagazin für Wohnungs- und Obdachlose „Hinz und Kunzt“ hochhält.

Vivaldi muss am Hamburger Hauptbahnhof schon lange herhalten, seit über 12 Jahren und das 24 Stunden, 7 Tage die Woche, um genau zu sein. Er wechselt sich ab mit Mozart, Bach und Brahms. Vivaldi und seine "Streetworker-Kollegen" sollen den Bahnhof jedoch nicht in barocke Klassik-Träume tunken, sondern vielmehr mit ihren Werken „die Betäubungsszene verdrängen“. Die Szenerie strotzt somit vor Groteske: soziale Armut untermalt von Mozarts "Zauberflöte“. „Ein schöner Nebeneffekt ist die angenehme Untermalung für die Reisenden“, so der damalige Pressesprecher der Hochbahn bereits vor 6 Jahren. Eine erfolgreiche Junkie-Verdrängung hätte laut Hamburger Hochbahn bereits stattgefunden, wohin wurde jedoch nicht preisgegeben.

Höhrere Musikfrequenzen können laut Musikpädagogen so etwas wie Schmerzempfinden im Ohr eines Drogenabhängigen ausüben. Der Hamburger Hauptbahnhof, seit Jahren viel diskutiert, bietet eine Situation, wie sie in vielen Bahnhofsvierteln deutscher Großstädte vorkommt: Obdachlose, Drogenabhängige, Alkoholkonsum. Die Bild-Zeitung atmete indes am Wochenende auf: „Endlich Kampf gegen das Elend!“, hieß es im bekannten Stil. Kampf oder doch eher Verdrängung? Der Bahnhofsvorplatz soll sauberer werden. Ausschließlich private Sicherheitskräfte schauen hier zukünftig nachdem Rechten. Der „Urin-Tunnel“, ein Fußgänger-Tunnel unter der Kirchenallee, wird geschlossen. „Die Hansestadt zeigt sich am Bahnhof von ihrer schlechtesten Seite“. Das Motto ist klar: Was sollen die Touristen denken?

Der Hamburger Hauptbahnhof ist in erster Linie nämlich eines: zu voll. Und zwar an Reisenden, drogenabhängig und -unabhängig. Der im Jahre 1906 in Betrieb genommene ist nachweislich gar nicht dafür geschaffen, mit täglich 450.000 Besuchern und Reisenden Deutschlands am höchsten frequentierter Bahnhof zu sein.

An Sonntagen zum Beispiel, wenn Wochenendurlauber und Pendler wieder nach Hause oder zum Arbeitsplatz fahren, werden die Bahnsteige unsichtbar von der Empore der Wandelhalle aus. Nur Köpfe, Köpfe, Koffer, Koffer, Köpfe, an beiden Enden der Bahnsteige schwebende Koffer und Köpfe. Da sind die Rolltreppen. Oft hält der einfahrende Zug nicht die Wagenreihenfolge ein, die der Wagenanzeiger verspricht. So beginnt ein Rugby-Spiel am Bahnsteig 12. Oftmals falsch positionierte Köpfe und Koffer versuchen panisch zum reservierten Sitzplatz im falsch eingefahrenen Zug zu gelangen und übertreten so manches Mal die Auslinie, die man ja nicht übertreten darf, wegen des einfahrenden Zuges. Unter dem Bahnhof liegen Tote, weil er einst auf den alten Steintorfriedhöfen erbaut wurde. Beim Koffer-Rugby ist zum Glück noch nichts passiert.

Auch die mittlerweile vollzählig eingetroffenen Kreuzfahrt-Gäste sind heil durch das Koffer-Rugby bekommen, erfolgreich am Bahnhofsvorplatz-Alltag vorbei geleitet worden und steigen jetzt in den Transferbus, der sie vom Ausgang Kirchenallee zum Kreuzfahrtterminal bringen wird. Mozarts “Cosi fan tutte“ stimmt Sie auf ihre Reise ein. Und im Deutschen Schauspielhaus läuft Aida.

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