Die S-Bahn des Wahnsinns -Der nächtliche Wandel des Nahverkehrs

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Über Problem und Ursache des sogenannten Koma-Saufens ist bereits ausgiebig berichtet worden. Ich möchte weder eine Sozialstudie zu diesem Thema verfassen noch den Alkoholkonsum verurteilen. Dies ist einfach ein kleiner Reisebericht über eine nächtliche S-Bahn-Fahrtdes Wahnsinns.

Nach einem geselligen entspannten Abend mit Freunden, so nennt man das wohl jenseits der dreißig, wollen wir die öffentlichen Verkehrsmittel des Hamburger Verkehrsverbunds nach Hause nutzen. Was wir total unterschätzen: Es ist Samstag und es ist kurz vor 0:00 Uhr. Völlig unvoreingenommen besteigen wir die S-Bahn in einem Hamburger Vorort, um zurück ins Zentrum zu fahren.

Da wir uns gerade am äußeren Rand des Hamburger Verkehrsnetzes befinden, wird der Zug erst eingesetzt und ist leer. Aber nicht mehr lange.Da kommt auch schon der erste Junggesellen-Abschied im einheitlichen Hasen-Kostüm durch den Schnee geschlurft. Das Finden der Wagon-Tür und der erfolgreiche Einstieg wird erst einmal mit einer kurzen Wodka-Druckbetankung gefeiert. Man muss nicht erwähnen, dass jeder Schluck per Handy-Kamera festgehalten wird. Halb erblindet vom permanenten Blitzlicht-Gewitter gucken wir aus dem Fenster. Die S-Bahn zockelt los, um dann alle fünf Minuten an einem weiteren Bahnhoflustige Junggesellen, schreiende asymetrische Gelfrisuren und kreischende Glitzer-Blond-Frisuren aufzugreifen. Spontane Striptease-Einlagen wechseln sich mit Rülps-Wettbewerben ab. Jeder,also wirklich jeder, ist mit einer Flasche Hochprozentigen equipped. Vielleicht haben wir etwas falsch verstanden und am Wochenende benötigt man als akzeptierter S-Bahnfahrer anstelle einer Fahrkarte eine Wodka-Flasche. Die Abfalleimer zum Aufklappen werden sofort nach Einstieg zur funktionalen Theke.

Ängstlich schauen wir uns um, hier ergießt sich eine homogene Masse. Mit Ende Dreißig und ohne Flasche haben wir echt schlechte Karten und sind bestimmt schon Gesprächsthema. Wo sind die Punks, die einfach ein wenig herumnölen und ihr Bier trinken? Da hätte man sich bestimmt noch ein Döschen organisieren können, um nicht ganz so aufzufallen.

Das hier ist eine andere Liga. An ein Gespräch ist nicht mehr zu denken, der Geräuschpegel steigt ins Unermessliche. Auf einmal sehne ich mir den Presslufthammer herbei, der mir letzte Woche noch so auf die Nerven gegangen ist. Apathisch gucken wir an die Decke. Wir hätten heute Abend zwecks Bewusstseins-Vernebelung definitiv mehr trinken sollen. Jetzt ist es zu spät.

Eigentlich schwirrt nur ein Wort durch die Sprit-geschwängerte Luft: DIGGER. Ich frage mich, wie man sich nur mit Hilfe von nur einem Wort verständigen kann. Liegt es an der Betonung? Im Japanischen soll das Wort „Ma“ ja auch verschiedene Bedeutungen haben. Das soll nicht heißen, dass ich der japanischen Sprache mächtig bin.

Wer jedoch denkt, wir haben es einfach mit einer S-Bahn-fahrenden Party-Gemeinde in Richtung Partyzone Reeperbahn zu tun, irrt. Die Stimmung gleicht eben nicht einer Friede-Freude-Eierkuchen-Wir –Feiern-Dass-Heute-Samstag –Ist-Stimmung. Die Stimmung ist zum Bersten. Dialoge, die dann doch noch teilweise zustande kommen, bestehen nur noch aus gegenseitigen Beleidigungen. Köpfe werden anstelle des Notfallhammers an die Scheibe geklatscht. Ist das jetzt nett gemeint, oder ein ernstzunehmender Konflikt? Man weiß nichts Genaues. Ein SOS-Schild, das wir dezent an die Scheibe drücken könnten, wäre vielleicht die Rettung…

Ich bin sicherlich nicht ein „Früher-war-alles-besser“-Mensch, weil früher eben nicht alles besser war. Auch habe ich in der S-Bahn getrunken und denke noch heute mit gemischten Gefühlen an die Flasche Katlenburger Erdbeersekt auf Ex zwischen den Stationen Hamburg-Altona und Hamburg-Dammtor. Aberman hat den zwangsläufigen Mitfahrernimmerhin noch eine Chance gegeben, ihr Ziel ohne zukünftiges S-Bahn-Trauma zu erreichen. Fairerweise sollte man erwähnen, dass das kostengünstige Konsumieren von Alkhohol auf St. Paulis Straßen damals noch erlaubt war, so dass das Trinken nicht in die S-Bahn vorverlagert werden musste.

Nur für das Protokoll: Wir haben trotz hohem Alters und niedrigem Alkoholpegels die 14 Stationen des Wahnsinns aus eigener Kraft überlebt. Mit einem respektablen Adrenalin-Spiegel begrüßen wir unsere neugewonnene Freiheit in frischer Winterluft. Der ältere Mann, der in der Kneipe seines Vertrauens wohl einen über den Durst getrunken hat und jetzt grunzend das Verkehrsschild umarmt, erweckt einen so stillen und friedlichen Eindruck.

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