Hannah Arendt und Spaghetti Bolognese

Sound der Krise Der französische Radiosender FIP liefert seit März 2020 den Soundtrack unseres neuen Corona-Alltags und spiegelt musikalisch die Vielschichtigkeit der Krisenzeiten wider

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Farben dominieren das Leben, heute mehr denn je. Momentan ist es das Gelb
Farben dominieren das Leben, heute mehr denn je. Momentan ist es das Gelb

Foto: Jens Schlüter/Getty Images

„La Vie en noir“ von Claude Nougaro untermalte einen schwarzen Mittag mit schwarz- verbrannten Fischstäbchen auf perfide Weise. Parallel zum Fischstäbchen-Verkohlen versuchte ich, einen Text fertig zu schreiben und dem Kind halbgeduldig halbschriftliche Division näherzubringen. Der Versuch blieb ein Versuch und endete erfolglos mit einem tief fliegendem Mathematik-Heft. Ich fühlte mich wie Clark Griswold in „Weihnachten bei den Griswolds“. Alles sollte in einem gewissen Rahmen nett sein und alle sollten in einem gewissen Rahmen nett zueinander sein. Und dann endet alles in einem Desaster. Nur ohne amerikanische überbordend kitschige Weihnachtsbeleuchtung. Für alle, denen „Weihnachten bei den Griswolds“ nicht geläufig ist: Eine komplett überzogene Weihnachtskomödie mit einer komplett überzogenen und doch so authentisch amerikanischen Familie, bei der am Ende eine illegale Klärgrube im Garten explodiert.

Zurück zu „La Vie en Noir“. Der französische Komponist und Sänger Claude Nougaro hatte einen Hang zu sozialkritischen Liedern und war dennoch gänzlich unpolitisch. Ein Widerspruch? Ich weiß es nicht. Wie dem auch sei. „ La Vie en noir“ traf meine schwarzverkohlte Stimmung. „Y en a qui voit la vie en rose, moi y en a voir la vie en noir.“ Es gibt welche, die das Leben rosé sehen, ich sehe es eher schwarz… Obwohl für mich die Grace Jones Interpretation von „La Vie en Rose“ zu den schönsten Frühlingsstücken zählt. Es passte aber an diesem Mittag weder zur Stimmung noch zu Fischstäbchen….

Was hat das mit dem aktuellen Leben tun? Farben dominieren das Leben, heute mehr denn je. Für die Werbeindustrie sind Farben ebenso wichtig wie für das Robert-Koch-Institut. Der tägliche Blick auf die Deutschlandkarte und diese kleine Erleichterung, sollte sich das dunkelrot in blut-orange verwandelt haben. Die rote Spaghetti Bolognese – Fontäne, die mir nach einem Jahr Home-Cooking-Schooling-Office aus den Ohren herausspritzt. Wenn die Kriegsgeneration ein Steckrüben-Trauma hat, so werde ich ein Bolognese-Trauma aus dieser Pandemie mitnehmen. Und ich entschuldige mich schon jetzt für den hinkenden Vergleich, weil die Kriegsgeneration sicherlich gern Spaghetti Bolognese gehabt hätte.

Blaue Kurven zeigen indes, wer bereits geimpft ist. Fotos gelber, gestempelter Impfpässe werden getwittert. Die blauweiße Maske des bayrischen Landesvaters, schwarz-weiß-rote und blaue-gelbe Flaggen auf Demos. Dann das purpur-graue Virus „itself“, graue Zuschauertribünen, an die sich Bundesliga und Championsleague-Spieler in ihren roten, grünen, weißen oder gelben Trikots schnell gewöhnt haben. Leere rot-samtige Theater- und Kinositze, vor denen nicht gespielt wird und nur einzelne Theaterintendanten und Kinobesitzer Interviews geben. Die leeren Tribünen zeigen was Kapitalismus nicht ist – gerecht. Zurück zu den Farben – die grüne Weite der Marsch und das Woll-Weiß der Schafe, die uns auf unseren nachmittäglichen Radtouren immer wieder auf den Kötel-bedeckten Boden der Tatsachen zurückbringen und uns nichtwissend helfen, die eigenen Emotionen zu sortieren.

Ein Riesen-Mosaik visueller Wahrnehmungen, Meinungen, keifender Kommentare, Beleidigungen, Vorwürfe, Rechtfertigungen, Verordnungen, Gegen-Verordnungen, verständliche und unverständliche Satire, Instrumentalisierung, Fragen, Antworten, Überzeugungsdrang, sich nicht überzeugen lassen, Intrigen, Eitelkeiten, Opportunismus, Solidarität, Sinn und Gerechtigkeit, Nazismus, egoistisches Handeln, Wettbewerbsgebaren, Fairness und Unfairness, Verständnis und Unverständnis, Beschuldigungen, Entschuldigungen und das Blöken der Schafe.

Dieses Mosaik durchzieht Familien, Freundeskreise, die Gemeindevertretung von Borstel-Hohenraden genauso wie das Weiße Haus, Kindergärten, Schrebergärten, Global Player. Es spaltet, durchrüttelt, sortiert neu, vereint vielleicht auch irgendwann. Stelle ich mir dieses Corona-Mosaik farbig vor, erscheint mir das Ausstellungs-Plakat des Künstlers Sigmar Polke, der den Begriff des „Kapitalistischen Realismus“ als Kunstrichtung mitprägte. Auf dieses Bild schaue ich oft, weil ich naturgemäß derzeit oft in meinem Wohnzimmer sitze. Das Plakat mit dem Titel „Wir Kleinbürger!“ zeigt eine Gesellschaft in Siebdruck-Technik. Jeder einzelne ist dennoch bei genauem Hinschauen zu erkennen. Individuen vor einem Farbstrudel, der zum Rand wandert, irgendwann die Gesellschaft übertüncht und zu beige wird. So interpretiere ich das Bild zumindest.

Letztens fühlte ich mich beige. Ich hatte keine Lust mehr Geschichten anzuhören, geschweige denn zu schreiben. Ich wollte nicht wissen, warum sich jetzt eine Bekannte (formerly known as Impfgegnerin) wie durch Magie hat impfen lassen, weil sie für ihre Mutter da sein muss, die wiederum wie durch Magie „ruppel die Katz“ pflegebedürftig geworden ist. Nein, nach dreimal Schlucken, wollte ich keine Neiddebatten, keine unverständliche Satire mehr deuten. Nicht überzeugen, nicht überzeugt werden, keine Meinungen hören, ich hatte Sehnsucht danach, einfach Kochrezepte auszutauschen, obwohl ich lieber esse als koche.

Das beige meines Gemütszustands passte hervorragend zu den beigen, abgerundeten Gesundheitsschuhen der 90-jährigen Dame aus der Nachbarschaft, die täglich sehr ambitioniert und immer gut gelaunt ihre Rollator-Runden dreht. Sie außen beige, ich innen beige. Dann fiel mir ein beiges Buch mit grüner Titel-Zeichnung in die Hände: Die Graphic Novel „Die drei Leben der Hannah Arendt“. Ich hatte schon öfters versucht Bücher von Hannah Arendt zu lesen und das Gelesene widerzugeben. Mit mäßigem Erfolg. Sie hat dennoch schon immer eine Faszination auf mich ausgeübt. Wenn ich einen ihrer Gedanken, wenn auch nur fetzenweise verstand, fand ich diesen brilliant interessant. In letzter Zeit kreuzte Hannah Arendt öfter meine Wahrnehmung. Als Motto-Geberin der weiterführenden Schule, für die sich unsere 10-Jährige beworben hatte. Als Barbara Sukowa im Film von Margarethe von Trotta. Und als Motto-Geberin auf Querdenker-Demos, wegen ihrer Gedanken zur Freiheit und so. Was hätte sie zu dieser Bewegung gesagt?

Die Graphic Novel, komplett in schwarz-weiß gehalten, nur die ständig rauchende Hannah Arendt ist grün gezeichnet. Ihre Gedanken, diesmal in Comic-Form, sind eingängiger und wunderbar aktuell. Sie haben mich wieder etwas mit der derzeitigen gesellschaftlichen Lage versöhnt. Es gibt eine Vielzahl von Wahrheiten, vielleicht Milliarden, die öffentlich vertreten werden. Ein Durcheinander? Na und? Die Pluralität hält die Demokratie am Leben, auch wenn sie wahnsinnig anstrengend ist. Auch wenn manche Menschen, die in einer Demokratie leben, nicht finden, dass sie in einer Demokratie leben. Der Kapitalismus macht es auch nicht leichter. Hannah Arendts Erkenntnis des Durchdenkens läuft nicht auf eine Antwort sondern auf eine nächste Frage hinaus. Durchdenken heißt Prozess, Durchhalten, Dynamik, Dialog, auch wenn gesellschaftliche Einfärbungen wie braun bzw. blau-pink schwer zu ertragen ist. Querdenken mit Kreuzdenken entgegnen. Nicht im christlichen Sinne, sondern eher frei nach der Redewendung Kreuz und Quer. Jede Meinung resultiert aus der ureigenen, individuellen Situation und wird als Wahrheit gesehen. Würden wir (generell solidarisch veranlagt) ablehnen, würde uns (Impfwilligkeit vorausgesetzt) ein befreundeter Arzt eine Gefälligkeitsimpfung anbieten? Das sollte durchdacht werden.

Mein beiger Gemütszustand hat sich verflüchtigt. Vor etlichen Jahren habe ich genau hier in einem kleinen Text gefragt, ob das Gespräch noch stattfindet. Das miteinander diskutieren, das zuhören und argumentieren, das reflektieren? Kontrovers geführte Gespräche, kein Rumkrakele. Gerne auch offline. Wäre schön, wenn das Mosaik bunt bliebe und die eine oder andere der jüngst viel zitierten Gesellschaftsblasen wie ein Farbbeutel zerplatzen würde. Immerhin ermöglicht die aktuelle Zeit in ihrer Vielschichtigkeit, einen wirren Text über Spaghetti Bolognese, Steckrüben, Clark Griswold, Hannah Arendt und Gesundheitsschuhe.

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