John Lennon, Durchseuchung und Folklore

Sound der Krise Der französische Radiosender FIP liefert den Soundtrack unseres Corona-Alltags und spiegelt musikalisch die Vielschichtigkeit der Krisenzeiten wider

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Der französische Staatssender ging 1971 erstmals „über den Äther“. Er diente damals wohl hauptsächlich zur Beruhigung der motorisierten Verkehrsteilnehmenden Frankreichs. Heute liefert FIP mir den Sound zur Krise und beruhigt noch immer. Die Melange des Senders aus allen erdenklichen Musikrichtungen -von Punk über Jazz, Dub, Hip Hop bis Kraftwerk und Edit Piaf - spiegelt die Ambivalenz und emotionale sowie perspektivische Vielschichtigkeit der aktuellen Zeit wider.

He‘s a real nowhere man

Sitting in his nowhere land

Making all his nowhere plans for Nobody.

Die Beatles singen seicht zum Frühstück. Das Lied schrieb John Lennon Mitte der 1960er, als er sich als leerer Mann in einer leeren Ehe wiederfand. Obwohl ich den Beatles für ihr musikalisches Schaffen sehr dankbar bin, mag ich dieses Lied nicht sonderlich. Wohl auch, weil ich keinen Zugang zum Genre Folk habe. Der erwähnte Beatles-Song wird aber nun einmal dem Genre Folk zugerechnet. Folk erinnert mich an zu harte Frühstückseier und die immer gleichen beiden Folkplatten, die das sonntägliche Frühstück meiner Kindeit untermalten. Ein Fidel- und Flöten-Trauma. Aber ich schweife ab.

Um eines meinem gleich folgendem Text vorwegzunehmen: Folk-Musiker sind ebenso viel oder wenig Verschwörungstheoretiker wie Friseure, Versicherungskaufleute oder Opernsänger.

Ich würde um einiges lieber einem 24-Stunden-Irish-Folk-Konzert beiwohnen als eine Hygiene-Demo besuchen, wegen meiner Meinung niedergeschrien werden und vielleicht noch ein als Wurfgeschoss dienendes Grundgesetz an die Birne bekommen, weil meine Meinung nicht in die Meinungsfreiheit der selbsternannten Hygiene-Rebellen passt.

Was schafft Indentiät?

Es geht mir um die Frage „Was schafft Identität?“ Musik, Herkunft, Kultur, Glaube, die Identitären?

Folk-Musik etwa ist musikalische Folklore. Sozusagen Volksmusik, die neu arrangiert oder nachgeahmt wird. Das geht in den Südstaaten ebenso wie in Deutschland, Irland, Schottland oder Norwegen. Folklore ist laut Digitalem Wörterbuch der deutschen Sprache „Zeugnis der Volkskunst“. Wie fast alles ist auch Folklore ein dehnbarer Begriff. Folklore ist natürlich schon längst kommerzialisiert und Teil des touristischen Reiseerlebnisses. Der Rentier-Hartwurst verkaufende Sami in seinem Zelt auf dem Weg zum Nordkap, die süßen rausgeputzten Kinder, die auf Madeira so nett zum Abend-Buffet tanzen oder die Hula-Girls zur Happy Hour. Die Bayrischen Wochen bei C&A ermöglichen dann auch jedem „Hirn aus-Kehle auf- Massenevent-Junkie“ einen adäquaten Preis für seine Oktoberfest-Einweg-Lederhose.

Manchmals kommen mir die gealterten Punks im durchgentrifizierten Hamburger Stadtteil Ottensen auch sehr folkloristisch vor. Als ob sie von der Tourismus-Behörde eingestellt wurden, um ein wenig rumzupogen, so wie damals 1982. Wegen der Authenzität und so. Oder die T-Shirts der 2000er mit den Logos der 1970er, PanAm, Ahoi-Brause und Rotkäppchen. Vintage hört sich natürlich besser an als Folklore.

Hippies mit Komfortzone

Es ist putzig zu verfolgen, wie in diesem Jahr Massen an VW-Bullies - ab Werk oder Vintage - wie auch immer angeschafft wurden, um dann auf Instagram die entspannten Bullie-Fotos des innerdeutschen, klimafreundlichen Urlaubs am Edersee durch einen überbelichteten Vintage-Filter zu jagen. Ich kann keine Fotos mehr von Fußfesseln mit indischen Kettchen sehen, die laissez-faire auf dem Beifahrer-Armaturenbrett ruhen.

Auch wenn sie es nicht bestimmt nicht gerne hören, Punks, 70 000-Euro-Hippies, Einweg-Lederhosen-Träger oder auch der Hartwurst-Sami haben eins gemeinsam. Sie haben sich ihre eigene Identität geschaffen. Durch Verhalten, Musik, Riten, Essen oder Motto-Shirts.

Und jetzt diese Querdenken-Demos, dessen Teilnehmer*innen scheinbar nicht zusammen passen. Querdenken ist ja erst einmal etwas positives. Der Zeit-Verlag suchte zu Prä-Coronazeiten ebenfalls nach Journalist*innen die „quer gedacht“ haben. Querdenken, das Denken abseits der ausgetretenen Pfade war branchenübergreifend in Stellenanzeigen herzlich willkommen. Insofern ist der Name der Bewegung geschickt gewählt. Ohne selber denken oder querdenken zu müssen, verschafft die nächste Demonstration ganz komfortabel die neu ersehnte Identität. Und schwups zählt man dazu, kämpft tapfer für das Grundgesetz. Auch für's Outfit ist gesorgt. „Alternative Medien für die kritische Masse" vertreiben lässige T-Shirts mit „I can‘t breathe“- Aufschrift. Mottos müssen auch mal wehtun…

Nehmen wir mal Oskar: War im Ashram, lebt von seiner Vergangenheit. Was waren das für inspirierende Zeiten damals! Auch wenn die Kohle bei Osho in Oregon blieb. Glück, freie Liebe in der prä-Aids-Ara. Free Spirit, unheimlich viel Energy. Ein bisschen Brokdorf, ein bisschen Startbahn West, RAF-Sympathien. Völker hört die Signale. Yoga und Esotherik sind auch heute noch wichtige Lebenshinhalte. Impfen nicht. Der in die Jahre gekommende Homöopath freut sich auf neue Herausforderungen, so kurz vor der Rente.

Nehmen wir Jule: Reise und Kultur-Bloggerin mit Hang zum digitalen Nomadentum, macht so Projekte and stuff. Reist viel. Bloggen reicht finanziell nicht. Um ihr hedonistisches Leben zu finanzieren, vermietet sie ihre zwei Zimmer in Kreuzberg über AirBnB und wohnt dann öfter bei ihrem Freund. Offiziell lebt sie aber natürlich ausschließlich von ihren Projekten. Seit Corona lebt sie wieder bei den Eltern on- und offline. Nicht poltisch. Ihre Existenz ist seit Corona eine andere. Und damit ist sie nicht zufrieden.

Nehmen wir Ben. Hat als zukünftiger Leistungsträger stramm, forsch und berufsbegleitend studiert. Hat jetzt in der Beratung ein vernünftiges Auskommen und eine 60-Stunden-Woche. War vor Corona Easy-Jet-Stammkunde. Jedes Wochenende Kumpels-Party in Lissabon, Barcelona, Berlin (→ Jule). Jetzt hat er nur noch seine 60-Stunden-Woche ohne Party.

Nehmen wir Thomas. Arbeitet im Reisebüro, geschieden. Verdient wenig, reist günstig. Hat ein ambivalentes Verhältnis zu „Ausländern“ . Im Urlaub sind sie dufte, wenn sie wegen Krieg und Geld und so hierher kommen, sind sie nicht dufte. Was Merkel da 2015 gemacht hat, geht gar nicht. Merkel muss weg. Da kommt diese Corona-Geschichte gerade recht. Er hat Zeit, ist sowieso auf Kurzarbeit.

Nehmen wir Arno, Nazi aus Überzeugung, und immer da, wo was los ist.

Nehmen wir Julius, hat sein ganzes Erspartes und noch viel mehr in ein Literatur-Café gesteckt. Jetzt hat er zu, bangt um seine Existenz. Ist ohnmächtig. War ein harter Sommer. Seine Tische dürfen nur zu 50 % besetzt sein, 50 Meter weiter tritt sich die cornernde Party-Gemeinde auf die Füße.

Ja, eine Pandemie ist ungerecht und diese fiktiven Personen sind so Klischee-behaftet, dass es weh tut. Sie verdeutlichen aber auch, dass das Leistungsorientierte und globalisierte System eben genau diese Lebensmodelle hervorbringt und eine Querdenker-Demo ziemlich absurd erscheinen lässt. Und es bringt Demonstranten hervor, die durch die Corona-Krise so gebeutelt sind, dass sie eine Demonstration mit rechten Hooligans scheinbar verzweifelt in Kauf nehmen.

Vielleicht schluckt Oskar auch, wenn er Thomas mit Merkel-Galgen sieht. Und Julius ist froh, sich nicht im Spiegel anschauen zu müssen, wenn Arno neben ihm gröhlend sein Ärmchen etwa zu hoch hält. Denoch können sie alle sich auf einen Nenner einigen: Sie erhalten eine neue Identität. Die der Corona-Gegner, der Querdenker, der einzigen Rebellen, die „last women and men standing“ gegen die „Merkel-Dikatur“.

Mal ganz quer gedacht: Hätte die Bundesregierung auf Durchseuchung gesetzt, wäre es interessant zu wissen, wie viele von den heutigen neun Fastiliaden Corona-Maßnahmem-Gegnern genau dort demonstrierten wo sie auch heute demonstrieren. Ich denke - viele. Was wären ihre Parolen? „Das Gesundheitssystem ist überlastet.“ „Zwei-Klassen-System in der Krankenversorgung.“, „Die Schere von Arm und Reich geht auseinander.“, „Der Neoliberalismus geht über Leichen“, „Das deutsche Volk wird ausgerottet“ und staatliche Unterstützung gibt es auch nicht. Das Motto „I can‘t breathe“ hätte wohl auch auf den Hoodies geprankt. Wenn es der Identität hilft.

30 Jahre kommerzielle Freizeitgestaltung

30 Jahre Reisen zu Discountpreisen, Massenevents, Statusdenken, Selbstoptimierung, Coachings, Kinderoptimierung, kommerzialisierte Freizeit in kommerziellen Räumen haben bis März unser Leben dominiert. Und auf einmal ist da – Nichts. Auch die Identität geht flöten, ist auf dem letzten Party-Wochenende in Prag geblieben. Plötzlich Spaziergänge und die Lieben, heimische Kräuter sammeln ohne extern festgelegtes Aktiv-Programm. Damit muss man erst einmal klarkommen.

Kritiker*innen der Corona-Maßnahmen monieren sich über die Regulierung der Freiheit. Dabei wurde die Freiheit und mit ihr die eben beschriebene Freizeit die letzten 30 Jahre reguliert. Freizeitstress sollte ja eigentlich ein Widerspruch in sich sein. Ein riesenhafter Dienstleistungssektor entstand jedoch. Reisen, Bespassung und professionelles Consulting auf allen Ebenen. Es ist interessant, wieviele libertär-orientierte Unternehmen mit, sagen wir mal kreativen Steuerkonzepten, jetzt zu Sozialisten werden. Hätte es statt Corona ein zweites Lehmann-Brothers gegeben, globale Pleiten, Pech und Pannen sozusagen, wie hätten die Gesellschaften reagiert? Ich wage eine Aussage, große Teile hätten es als Gottgegeben hingenommen.

Nein, die Pandemie ist nicht gerecht, 30 Jahre Neoliberalismus und Extrem-Kapitalismus aber auch nicht.

He‘s a real nowhere man

Sitting in his nowhere land

Making all his nowhere plans for Nobody.

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