Zeiträume

Krieg und Alzheimer Als sich die Welt meines Vaters veränderte und Raum für Diskurs gab

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Im letzten Jahr verschoben sich Zeit- und Raumachsen. Und nein, dies wird keiner dieser epochalen Zeitenwende-Texte. Es geht erst einmal ganz profan um meinen Vater. Mein Vater zog vor rund anderthalb Jahren um. Das Paradoxe an seinem Umzug war jedoch, dass niemals ein Umzug stattgefunden hatte.

Seit Jahren schon spielte sich sein Leben im selben kleinen Ort zwischen Doppelhaushälfte, Arzt und Aldi ab. Und dann das - er wohne jetzt in Zürich. Meine etwas aggressive Reaktion, dies sei alles Quatsch, prallte an seiner durch und durch überzeugten Mimik ab, die nur Mitleid für mich übrig hatte. Auch ein an ihn adressierten Brief der Kommunalverwaltung änderte nichts an seiner Sichtweise. Brav laß er auf mein Bitten seine eigene Adresse vor.

"Ja, und? Das ist meine Adresse!"

"Ganz genau, das ist Deine Adresse! Und steht da irgendwo Zürich?" Trimphierender Blick meinerseits.

"Nein, warum auch!"

Mitleidiger Blick seinerseits in meine Richtung.

"Ich habe den Ortsnamen mitgenommen, das erschien mir praktisch. Ich gewöhne mich ungern um. Es gab wohl anfänglich Proteste der restlichen Einwohnerschaft, weil die ja jetzt keinen Ortsnamen mehr haben, aber die haben sich bestimmt wieder eingekriegt!"

Das saßen wir nun, jeder in seiner Welt, jeder in seiner Wahrheit, jeder von dem anderen denkend "auch schon mal plietscher gewesen"...und schwiegen uns an.

Die Demenz nahm an Fahrt auf.

Nun verstand ich, dass ich mich für seine Welt öffnen musste. Das war im Mai letzten Jahres. Auf dem Couch-Tisch lag ein Zeitungsschnipsel ausgeschnitten aus der Tageszeitung. Ein Passus aus dem Lied "Russians" von Sting.

We share the same biology, regardless of ideology
But what might save us, me and you
Is if the Russians love their children too

"Was ist das?"

"Fand ich gut, darum habe ich das ausgeschnitten."

Geostrategie statt St. Pauli - HSV

Dann unterhielten wir uns über die Russen, die Sowjets, den Krieg, wobei ich nicht genau herausbekam über welchen. Das war an dieser Stelle auch irrelevant. Wir sprachen über Breschnews Augenbrauen, Chruschtschows Schuh, Putins ausladenden Tisch und über das, was Kriege mit Menschen machten. Er hatte eine Meinung, ich hatte eine Meinung. Er hatte eine Vorstellung von Wahrheit und ich auch. Wir bemitleideten uns nicht mehr gegenseitig und versuchten auch nicht die eigene Meinung als unwiderrufliche Wahrheit zu verkaufen.

In diesem Moment verstand ich, wir hatten einen Raum gefunden. Wir schätzten uns wieder. Und versuchten die Sichtweise des anderen zu verstehen oder wenigstens zu tolerieren.

Als seine und meine Zeitachse einmal parallel liefen, das war durchaus des Öfteren der Fall, fragte ich ihn nach seiner Position zum Ukraine-Krieg. Seine Antwort: "Wir sind hier nicht beim Fußball, viele Interessen, viele Schicksale und nicht Sankt Pauli - HSV."

Irgendetwas Meliertes

Ich habe aus diesen Gesprächen gelernt. Auch, dass seit letztem Jahr in meinem Umfeld, ganz gleich wie weit ich es stecke, Raum für Diskurs fehlt. Und oft muss ich an das von meinem Vater erwähnte Lokal-Derby denken. Man kann den Ukraine-Krieg nicht auf zwei Meinungen eindampfen. Ich habe eine Meinung zur derzeitigen weltpolitischen Situation, wie wahrscheinlich viele eine Meinung haben. Eine Meinung jenseits des Schwarzweiß-Denkens. Irgendetwas Meliertes. Ich habe eine Meinung, die sich verändert, sich versucht stetig neu zu finden im Wirrwarr der Globalisierung, Moralisierung, Mobilisierung, Paradoxisierung, Radikalisierung und in Anbetracht der vielen unglaublichen Grausamkeiten dieses Krieges. Putin ist meiner Meinung nach ein perfider Verbrecher, aber sind Selenski oder Melnik dadurch lupenreine Demokraten? Und gerade wenn sie lupenreine Demokraten wären, sollte man sie doch kritisieren dürfen, ohne gleich die Nazi-Keule über den Kopp gezogen zu bekommen.

Im Sommer letzten Jahres schnitt mein Vater Schallplattengroße Kreise aus seiner Zeitung aus. Auf dem Boden lag der alte Plattenspieler.

"Hilf mir mal, den Mittelpunkt zu markieren!"

"Was hast Du vor?"

"Ich verstehe die Zeitung nicht mehr und möchte sie jetzt hören."

Ich konnte das verstehen.

Leoparden und Spießer

Seit einiger Zeit bin ich es, die Probleme mit Zeitungen hat. Die sogenannten Leitmedien scheinen nur noch aus Meinungsartikeln zu bestehen, die zwar nicht als solche markiert sind, aber dafür alle in dieselbe Richtung marschieren. Menschenrechte, Freiheit und Demokratie können derzeit scheinbar nur mit Panzerlieferungen erkämpft werden. Und das Blätter-übergreifend.

Eine objektivere Berichterstattung, die verschiedene Perspektiven zulässt, gehört nicht nur zum journalistischen Handwerk sondern ermöglicht Raum für Diskurs. Dass die kaputte Nordstream-Pipeline nicht unbedingt russische Sabotage war und ganz nebenbei auch nicht unbedingt optimale Auswirkungen auf die Umwelt hat, erschien, wenn überhaupt, jenseits der großen Header. Kriegserklärung und Leoparden-Emojis? Herrje, kann doch mal passieren, im Eifer des Gefechts. Muss man ja nicht so breittreten. Spießer!

Vielleicht hängt die gleiche Berichterstattung der Leitmedien auch mit gleicher Herkunft seiner Protagonist*innen zusammen? Laut letztens erschienenem Kommentar des Journalisten Christoph Ruf wählen rund 80 % der ihm bekannten Journalist*innen grün. Dies ist keine repräsentative Umfrage und ich bezweifle, dass Herr Ruf alle ihm bekannten Journalist*innen, immerhin "eine Anzahl im hohen dreistelligen Bereich", zu ihrem persönlichen Wahlverhalten interviewt hat.

Dennoch ist verbreitet erkennbar, dass sich sowohl Journalist*innen als auch Politiker*innen oft in ihrer gesellschaftlichen Herkunft gleichen. Und diese Herkunft ist nicht unbedingt in einer Sozialwohnung in Hamburg-Steilshoop oder Bremen-Nord verankert, sondern eher irgendetwas zwischen Altbau und Resthof, humanistischer Bildung und Erbe. Laut Elitesoziologe Michael Hartman entstammen mittlerweile 50 % der Spitzenpoltiker*innen aus einem elitären Elternhaus. Sprich Wirtschaft-, Finanz- oder Medienelite produziert Politik gleich selbst.

Verteidigung der Demokratie durch Shitstorm?

Ich höre oft ein großes Schweigen und schweige selbst. Wenn im öffentlichen Raum eine Diskussion zustande kommt, dann mit eher gedämpften Stimmen. Der Diskurs, sofern dieser stattfindet, mutiert oftmals in persönliche Beleidigungen. Es sollte in einer Demokratie mit vermeintlich demokratischen Werten doch möglich sein, andere Meinungen zuzulassen, ohne die dahinterstehende Person bis unter die Gürtellinie zu beleidigen. Es sollte in einer Demokratie möglich sein, einen öffentlichen Brief zu schreiben und zu unterschreiben. Regelmäßig fordern Shitstorms "Demokratie und Freiheit". Dabei sind es genauso diese Shitstorms, die Demokratie und Freiheit abschaffen, zur Selbstzensur oder einfach zum Schweigen führen.

In der Vorweihnachtszeit forderte der ukrainische Kulturminister von Europa, Werke des russischen Komponisten Tschaikowsky zu boykottieren. In der Vorweihnachtszeit führte John Neumayer den Nussknacker auf. Frenetischer Szenenapplaus. Wann? Als Fantasie-Kosaken vor russischer Fantasie-Kulisse ihr Solo tanzten. Die anderen Soli waren mindestens genauso gut. Und ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass die ausverkaufte Hamburger Staatsoper nicht randvoll mit Putinversteher*innen gefüllt war. Ich verstand den Applaus als Anerkennung einer Musik, die beinahe Opfer eines furchtbaren Krieges geworden wäre.

Mein Vater starb bereits im September am Geburtstag von Leo Tolstoi, Verfasser eines bedeutenden Werkes der Weltliteratur: Krieg und Frieden.

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